Bhutanreise

2015 war ich in Bhutan. Dorthin zu reisen ist schon sehr umständlich aber auch außergewöhnlich. Doch es ist das einzige Land, das zu besuchen sich noch lohnt. Das Land ist erst vor fünfzig Jahren aus seinem mittelalterlichen Traum erwacht und noch nicht vom Schrecken der Moderne eingeholt. Es ist wenig bevölkert (700 000 Menschen in einem Gebiet so groß wie die Schweiz) und liebt noch seine von Tibet her bestimmte tantrisch buddhistische Religion, seine Mönche, seine Klöster, Dzongs (Festungen) und Chorten. Und es liebt auch noch seinen König, obwohl dieser (bzw. noch dessen

Vater) sein Volk gezwungen hat, die parlamentarische Demokratie gegen den Willen der meisten Menschen dort einzuführen. Es besteht fast nur aus Bergland und so schmalen Tälern, so dass man meistens auf den mittleren Höhen von 1500 bis 3000 Metern lebt, weil unten an den Flüssen kein Platz zum Wohnen und für die Landwirtschaft besteht..

Eine Anreise nach Bhutan wird oft vom Darjeeling und Sikkim aus unternommen, aber man kann auch gut direkt von Delhi über Katmandu nach Paro fliegen. Es hat den Vorteil, dass man dann – links im Flieger sitzend – alle Achttausender an sich vorbeiziehen sieht. Im Uma-Paro-Hotel wird man mit kräftigem Ingwer-Tee empfangen. Schon in diesem ganz westlich gelegenen Tal besichtigten wir den Dzong, eine Festung, die – wie in allen Dzongs – zur Hälfte der politischen Führung und zur anderen Hälfte einem Tempel dient. Sodann geht es am ersten Tag gleich auf die längste Tour, nämlich auf das in ca. 3000 Metern Höhe gelegene und an die Felswand wie geklebte Tigernest.

Der tibetische Guru Rimpoche soll im achten Jahrhundert auf diesem Felsvorsprung siebenhundert Meter über dem Parotal meditiert haben. So etwas muss wirklich noch ein großes, über die gewöhnlichen Ereignisse (modern gesagt: über die Alltags-Psychologie) hinausragendes Ereignis gewesen sein. Nicht nur, dass der Blick von dort oben grandios ist, auch das Phänomen wie an der riesigen Felswand, die es leicht mit dem El Capitan in den USA aufnehmen kann, zu kleben, muss großartig angemutet haben. Um 1600 kam erneut aus Tibet ein Heiliger, ShabdrungNamgyal, der als Einiger des modernen Bhutans gilt und das Tigernest-Kloster dort auf dem Felsen errichten ließ. Shabdrung, wie er abgekürzt und häufig genannt wird, war Baumeister, Herrscher und Mönch zugleich. Seinen Namen hört man aus dem Mund des Reiseführers jeden Tag mehrmals.

Außer dem Tigernest besuchten wir am ersten Tag der Reise noch einen weiteren Tempel und das Dzongmuseum. Danach fahren die meisten Reisegesellschaften nur bis zur Mitte des Landes, nach Bhumtang, und kehren dort wieder um. Doch dies ist schade. Man  sollte ganz durch das Land bis in den äußersten Osten fahren und über Assam und das am Brahmaputra gelegene Guwahati wieder nach Indien zurückkehren. Wir blieben in allen größeren Orten zwei Tage, sonst reichte meist ein Tag für Besichtigungen.

Shabdrung Namgyal schuf als Erster einheitliche staatliche Strukturen in Bhutan und baute unglaublich viele Klöster und Dzongs. Er starb unbemerkt von der Öffentlichkeit in einer dieser monumentalen Bauten. Man verschwieg dem Volk jahrzehntelang seinen Tod, um die Stabilität im Reich nicht zu gefährden. Für die Tour hinauf zum Tigernest und hinunter braucht man vier bis fünf Stunden. Man sieht das Kloster schon nach über einer Stunde Aufstieg von einem gegenüberliegenden Bergrücken aus, wo es auch eine Teestube gibt. Dann geht es nochmals eine Stunde weiter aufwärts, von wo aus man jedoch stufenartig wieder hinunter und dann erneut hinaufsteigen muss. Wenn man auch heute, im Jahr 2015, noch kaum Touristen in Bhutan trifft, so sind es hier, auf dieser Tour,  jedoch viele, denen man begegnet. Aber es ist ein Muss dort hinauf zu gehen, sonst sollte man gar nicht ins Land fahren. Leider gibt es immer solche Verknüpfungen von dürfen, können, müssen und sollen, die freilich nicht für jeden gelten, aber denen man schlecht auskommt.

Von Paro aus sind es nur drei Stunden auf relativ guten Straßen in östliche Richtung bis zur Hauptstadt Thimpu. Dort wurde die einzige Ampel, die es an einer Straßenkreuzung gab wieder abgeschafft, weil sie zu unpersönlich wirkte. Der Dzong in Thimpu ist der größte, gebaut wie alle Gebäude im Land mit weiß getünchten Stein und dunkelbraunen Holz. Diese unglaublichen, steilen Berge, diese phantastische Architektur der großen Festungen und Klöster und diese schlichten freundlichen Menschen mit ihrem gottlosen (Buddha ist kein Gott) und dafür umso intensiveren Glauben ziehen einen in eine kontemplative Stimmung hinein. Die mit leicht bräunlichem, dunklen Holz und darauf mit pastellenem rötlich, gelb grün bemalten und bestückten weißen Fassaden machen einen heimeligen Eindruck. Der Thimpudzong ist so groß, dass in seinen Innenhöfen gut die zweitausend Menschen Platz hatten, die zu seiner Bauzeit dort gelebt haben. Schöne Antiquitäten, Masken und Stoffgeschäfte finden sich in der relativ überschaubaren Stadt. Wichtig ist es auch, die Hunde von Thimpu zu kennen, die zahlreich dort herumstreifen und auch mal gelegentlich in unfreundlichen Rudeln auftreten. Trotzdem werden sie von Mönchen gefüttert. Und genau so wichtig ist freilich auch ein Besuch auf dem  Wochenmarkt mit Obst und Gemüse und farbig gewandeten Bhutanesen.    

Meiner Ansicht nach ist Bhutan nicht deswegen ein glückliches Land, weil es einen Glücks-Minister hat. Statt dem Brutto-Sozial-Produkt spricht man hier von der ‚Gross-National-Happiness‘, dem Brutto-Glücks-Produkt. Ich denke aber, dass das Glück von dem gerade so sanft und doch zügig stattfindenden Wandel herkommt. Das Alte ist noch gut da und das Neue auch schon zu haben. Jedenfalls handelt es sich nicht um das, was von westlichen Touristen bezüglich der sogenannten Dritten Welt oft behauptet wird‚ nämlich dass sie ‚arm seien, aber glücklich‘. So ein Ausspruch zeigt nur falsches Mitleid oder einen neidvollen Irrtum. Die Bhutanesen sind glücklich und gleichzeitig nicht arm. Dies liegt zum großen Teil auch daran, dass als Relikt aus matriarchalen Zeiten den Frauen Grund um Boden gehören. Das gibt ihnen Sicherheit und Stärke.

Und so muss man also zum Tigernest hinaufgehen, auch wenn man das Wesentliche des Glücks dort nicht trifft. Egal, Shabdrung tut´s auch, der so hochheilig Verehrte soll mit einem Trick eine Reliquie Buddhas in seinen Besitz gebracht bzw. diese widerrechtlich behalten haben, indem er im Moment der Übergabe das Original in den Ärmel seines  ‚Gho‘, der männlichen, dem Schottenrock ähnliche Nationaltracht, hat hinein rutschen lassen und nur die Kopie der Reliquie überreichte, listenreich. Der männlichen Nationalkleidung des ‚Gho‘ entspricht bei den Frauen die längliche ‚Kira‘, ähnlich in sanft braun-rötlichen-gestreift-karierter Form gestaltet.  

Jedenfalls ist der Tourismus  noch relativ bescheiden, ohne Rucksackfreaks, da man über 200 Dollar am Tag ausgeben muss, nicht ohne Fahrer und Führer unterwegs sein kann und die Hotellerie bis in hohe Luxusklassen reicht. Am dritten bzw. vierten Tag Fahrt nach Punaka mit einem am breiten, wilden Fluss gelegenen sehr schönen Dzong. Immer wieder trifft man auf vergoldete Buddhastatuen, fabelhafte Teppiche, Behänge und bedeutungsvolle Mandalas an den Wänden. Eindrucksvoll ist überall die ähnliche filigrane Struktur der Holzfassaden, in die Fenster oder malerische, geschnitzte Figuren eingelassen sind. Wir haben an den Ufern des Flusses später herrlich gepicknickt.

Trotz dem in Form des geduldigen, harten und frommen Lebens in den Bergen, dem alle eifrig nachzustreben scheinen, kann man schon jetzt von jeder Stelle des Landes aus Handyempfang haben, und so orderten unser Führer schon unterwegs eines der kleinen Bergrestaurants, wo trotz der Einfachheit (gebratene Nudeln, Bohnen, Reis, Mischgemüse, Fleisch und massiv Chilli) alles wunderbar schmeckte (liegt es an der ständigen Höhe von 1000 bis 4000 Metern, dass der Appetit so gut ist?) Auch von Punaka aus Wanderungen in die Höhe zu Gebetshäusern und Klöstern mit Besuch von deren vom murmelnd-sonoren Gesang getragenen Andachten. Buddha ist also kein Gott, hilft nicht und überlässt jedem Einzelnen seine Art der religiösen Ausübung. Sie muss nur ‚gut‘ sein.

Als ich in einem Gespräch einem Bhutanesen sagte, wenn man soviel Gutes wie möglich getan hat, wird einem Buddha den Rest dazugeben, stimmte mir mein Gesprächspartner hinsichtlich des Konditionalsatzes zu. Aber der Rest, meinte er, ist Nirwana, Buddha ist kein gebender, nehmender oder anders tätiger Gott. Es gibt keinen Rest für ihn, er ist nur das höchste Vorbild. Großartige Mathematik, sagte ich zu ihm, ihr schließt wenigstens die Null immer in euer Denken ein. Dann servierte er bhutanesischen Buttertee, der zumindest in Bhutan nicht mit ranziger Butter versetzt, wie ich es über den tibetischen Buttertee immer gelesen habe, sondern mit normaler Butter und somit gut trinkbar.

Am siebten, achten Tag Eintreffen in Bhumtang, wo man mehr und mehr den Eindruck hat eigentlich in Tibet zu sein. Wir wohnten Im Amankora-Hotel, das wohl im Rahmen der Reisepauschalbuchung bei weitem nicht so teuer war wie es im Internet angeboten wird. Im dortigen Dzong hatten wir das Glück durch Zufall die Generalprobe der Mönchstänze im Dzong (Klosterfestung) von Bumthang erleben, zur Hauptveranstaltung hätte man keinen Stehplatz mehr bekommen. Die Mönche tanzten sich in Trance, vielleicht nicht in die tiefste Form der Entrückung, aber immerhin doch weit genug in den Kulminationspunkt einer religiösen Empfindung und Katharsis hinein. Für uns wären solch körperliche Anstrengungen zu viel, zu umständlich und zu einseitig, wir müssen uns wohl auf andere Weise vergeistigen. Zwischen den tanzenden Mönchen wandelten clown- bzw. , karnevalsartige Typen herum, die die ernsthaft um sich herum wirbelnden Mönche spaßig traktierten (als Ausgleich für zuviel Strenge?).

Von Bhumtang ging es dann weiter hoch in die Berge, wo uns mehrmals Herden von Packeseln, Rindern oder Yaks begegneten und wir einen Pass von viertausend Metren überquerten. Das nebenstehende Bild stammt aus Gangtey, wo sich eines der ältesten Klöster befindet, in dem die Alte Schule des tibetanischen Buddhismus gelehrt wird. Man konnte mit den Mönchen reden, die auch Kunsthandwerk erstellten. Stets geht es auf kurvenreichen und meist zunehmend schlechter werdenden und umständlich geführten Straßen weiter.

Den Dzong von Trongsa, der nächsten Station,  konnten wir schon von der gegenüberliegenden Bergkuppe sehen, er war vielleicht nur einen Kilometer entfernt. Doch wir mussten erst weit zurück den Berg hinunter bis zur Stelle, wo eine Brücke schließlich das Tal überquerte, um dann wieder weit den Trongsa-Bergrücken zu erklimmen. Zufällig sah uns der Bürgermeister vor dem Dzong stehen und unterhielt sich mit uns. Früher waren die Zeiten hart gewesen, meinte er. Man konnte öffentlich mehrmals verprügelt werden, wenn man zu einer Feier des Königs nicht rechtzeitig erschienen war, was ja bei dem bergigen Gelänge zu Fuß nur über ausgetretene Pfade (Straßen gibt es erst seit siebzig Jahren) leicht passieren konnte. Auch wir brauchten lange um das Land zu durchqueren. Für die ganze Strecke von 700 Kilometer benötigten wir vierzehn Tage, wobei wir durchschnittlich täglich mehrere Stunden im Auto saßen.

Weitere Stationen waren Mongar und Trashigang. Letzteres bietet nochmals eine interessante Umgebung. Im Gom Kora, eine Stunde von Trashigang entfernt, wohnten wir wieder einer Feier und Andacht von Studenten bei, die dort aus verschiedenen Regionen zusammenkamen und die begeistert im Tempel mitsangen und –summten. Im Ort konnte man phantastisch essen und später auf einem Feld bei der Getreideernte zusehen und – nur ganz kurz – mithelfen ein Bündel mit der Hand auf den steinigen Boden zu dreschen. Maschinen für die Landwirtschaft gibt es nicht.

Interessant sind in Bhutan auch die Geschlechterrollen, wie gesagt besitzen die Frauen in Bhutan generell Grund und Boden, was sie allerdings auch an ihre Gehöfte bindet und ihnen Verantwortung auferlegt. Grundsätzlich ist in Bhutan Polygamie erlaubt, und es existiert auch Polyandrie für die Frauen. Doch gerade dieses Privileg wird zunehmend seltener genutzt, weil die Männer beginnen, in die Städte abzuwandern und sich die Modernität westlichen Lebens aneignen. Während es früher also so war, dass die Schuhe des Mannes, der sich gerade im Schlafzimmer der Frau aufhielt, vor der Türe stehen bleiben mussten, damit der andere – zweite oder dritte – sehen konnte, dass er jetzt nicht gefragt war, kommt jetzt der moderne bhutanesische Ehemann von seinen längeren Außenaufenthalten zurück und muss sich von seinen erotischen Abenteuern erholen. Dazu kann er, auch weil keine anderen Schuhe mehr draußen stehen, schnurstracks ins gemeinsame Schlafgemach gehen.

Zum Schluss geht es durch die Berge hinunter nach Sandrub Jongkhar, dem Grenzort zu Assam in Indien mit seinem schwülwarmen Klima und seiner Handelsgeschäftigkeit. Denn von hier aus fahren die bunten, uralten Lastwagen, die von Guwahati kommen, hinauf nach Bhutan, um alles, angeblich sogar Fleisch zu bringen, was es in Bhutan nicht gibt (man würde Tiere nicht töten, erklärte man uns. Wir begegneten jedoch einmal der Wagenkolonne des Königschwiegervaters, der zum ausgiebigen Fischfang fuhr). Auch wären wir einmal an einer heiklen Stelle vor Sandrup Jongkhar fast mit solch einem Lastwagen kollidiert.

Für den, der über äußerliche Assoziationen dem wahren Bhutan noch näher kommen will, gibt es aufregende Trekkingpfade, die über die einzelnen fünftausend Meter-Pässe führen. Der österreichische Journalist und Tourismusberater M. Uitz beschreibt sie wundervoll in seinem lesenswerten Buch und berichtet auch plastisch von dieser noch einsameren Welt im Norden des Landes.[1] Er lebte mehrere Jahre dort und verliebte sich vielleicht zu sehr in die dort übliche tibetisch-magische Medizin, die ihm sein Herzleiden stets linderte. Doch hinter seinen Beschwerden steckte offensichtlich ein unerkanntes schwereres Herzleiden. Meiner Ansicht nach litt er an einem Herzklappenfehler, den er sich in der Heimat hätte behandeln lassen sollen, so aber starb er in Bhutan im Alter von 55 Jahren. Natürlich fühlt man sich bei einer persönlich so zugewandten und durch alte Erfahrungen gestützten Medizin oft wohl und bemerkt nicht die unterschwelligen Gefahren. Hätte er nicht nur die Landschafts- und Ethnien-Meditation betrieben, sondern auch das kritische westliche naturwissenschaftliche Denken bewahrt, hätte er – meiner Ansicht nach – seine Krankheit in Europa operieren lassen können und würde heute noch leben. Einen ähnlich eindrucksvollen Bericht schilderte die Kanadierin Jamie Zeppa,[2] die als Lehrerin in den Bergen arbeitete und schließlich einen Bhutanesen heiratete. Sehr humorvoll erzählt sie, wie es für ihren Mann selbstverständlich war, alle seine Familienangehörigen oft über längere Zeit in der Zweizimmerwohnung, in der sie später im Thimpu lebten, zu beherbergen.

Zusammenfassend möchte ich noch einmal die vielen, oft sehr alten und wunderbaren Tempelmalereien erwähnen, möchte auch nochmals auf die grandiose Architektur hinweisen, die hinsichtlich der Dzongs bis zu vierzig Meter in die Höhe reichen und diese dunklen Holzverzierungen und –verstrebungen aufweisen, die auch einfache Wohnhäuser am Land zieren und so allem einen einheitlichen Stil verleihen. Sodann die stets freundlichen, anmutigen und glücklich gestimmten Menschen, mit denen man gut in Kontakt kommen kann, da über den Fahrer und den Reiseführer häufig Vermittlungen zustande kommen. Von Guwahati aus muss man über Kalkutta wieder ausreisen, es sei denn, man hängt noch eine Badeurlaub an der Malabar-oder Koromandelküste an.



[1] Uitz, M., Bhutan, Einlass ins Reich des Donnerdrachens, Picus (2011)

[2] Zeppa, J., Mein Leben in Bhutan. Als Frau im Land der Götter (2009)