Die Lust und das Genießen

In einem seiner Seminare spricht Lacan über das Genießen als solches, über die ‚Jouissance‘, die jenseits des ‚phallischen Genießens‘ anzusetzen ist. Egal was auch immer über den Unterschied von ‚phallischer Lust‘ (plaisir phallique) und einem eben ganz anderen,  darüber hinausgehenden Genießen als ‚Jouissance‘ zu diskutieren ist, ich behalte diesen Unterschied als von Lacan so gemeint und auch für die psychoanalytische Theorie brauchbar bei. Die Psychoanalytikerin R. Golan hat diese ‚Jouissance‘  speziell auf das Weibliche bezogen. Sie schreibt, dass dieses sich auf eine andere Form beziehende Genießen auch Schmerz und Leid  einschließt, dass es aber auch „Universalität, Höhe, Grenzenlosigkeit, Erkenntnis / Erleuchtung, Wissen, Freiheit und Glückseligkeit beinhaltet“.[1]  Was hier widersprüchlich klingt, lässt sich leicht damit erklären, dass diese ‚Jouissance‘ vorwiegend in einer Gewissheit und Sicherheit besteht, das Geschehen der Welt von einem allumfassenden Aspekt her gesehen zu haben und auch dauerhaft sehen zu können. Von solch einem Standpunkt aus ist es nicht so schwer vieles Unangenehme, Missliche und Schmerzhafte auszuhalten, da man deren vorübergehende Auswirkungen kennt und überschauen kann.

 

Diese Argumentation mag etwas an die religiöse Behauptung erinnern, das wahre Genießen würde erst nach dem Tod erfahren werden und vor her muss man eben das Leben mit all seinen Schwierigkeiten aushalten. Der psychoanalytische Standpunkt Lacans, auf den ich mich hier Berufe, beinhaltet jedoch, dass die ‚Jouissance‘ bereits jetzt, wenn auch zeitweise gemindert durch das Negative, in vollem Umfang  erfahren werden kann. Sie kann nicht nur am eigenen Körper erfahren werden, sondern ist auch zu sehen, dass das Genießen in allen Lebewesen, selbst bis in die Pflanzenwelt hinein existiert.[2] Lacan bezieht sich auf das Neue Testament, wo die Lilien auf dem Feld beschworen werden, zu weben und zu spinnen, was auf ein Genießen hindeuten könnte, das sozusagen weit in alle Lebensbereiche hineinreicht. Damit wäre der Unterschied zur Lust, die sich an einem Objekt abarbeitet und für die die ‚phallische‘ Form als prädestinierend gilt, weiter geklärt.

Nichts freilich soll den Menschen daran hindern, an den beiden Formen, an Lust und Genießen als solchem, teilzuhaben. Es ist trotzdem gut, den Unterschied zu kennen und zu wissen, wie mit ihnen umgegangen werden kann. Wahrscheinlich sollten sie sich die Waage halten, sicher ist es aber auch kein Fehler, das Ende des Lebens mit der ‚Jouissance‘ zu gestalten und nicht den sogenannten ‚Liebestod‘ zu sterben, worunter ein Exitus während des Koitus verstanden wird. In einer Herz-Kreislaufklinik musste ich einmal die dreizehn Fälle eines derartigen Geschehens statistisch und inhaltlich erfassen, die sich während zehn Jahren ereignet haben. Das Fazit bestand darin, dass sexueller Verkehr mit einem ‚Kurschatten‘ – die Klinik war eine Rehaklinik – besonders häufig vorkam. Offensichtlich war der Stress mit fremden, neuen, Partnern oder Partnerinnen als außerhalb des üblich Normalen zusätzlich zur körperlichen Anstrengung der Herzkranken zu viel an Belastung gewesen. Nur zweimal fand der ‚Liebestod‘ mit der zu Besuch angereisten Ehefrau statt.

Das Ganze war trotz allem für alle Beteiligten, auch für das Klinikpersonal und uns Ärzte schrecklich. War es schon schlimm genug, dass in der Rehaklinik, die ja der Wiederherstellung nach Herzinfarkt dienen sollte, ein Todesfall auftrat, so noch mehr, wenn der Hintergrund aus dem ‚phallischen‘ Genießen und nicht der ‚Jouissance‘ bestand. Denn im Gegensatz zu der landläufigen Meinung, dass der in den Armen des Leidenschaftspartners eintretende Tod doch das Schönste sein muss, das man sich vorstellen könne, sieht die Realität anders aus. Die Arme sind nämlich zu diesem Zeitpunkt schon wieder zurückgenommen, Schmerzen und Panik stehen im Vordergrund, eifrig herbeigerufene Helfer konfrontieren mit der vollkommenen Entblößung und der Tod tritt erst einige Zeit danach ein. Am Höhepunkt der Lust zu sterben und dies auch noch in den vom Leben scheidenden Vorgang mit hinein zu nehmen ist eine fromme Illusion, weshalb ich nach wie vor empfehle, durch Meditation oder Ähnliches schon im Leben davor so viel ‚Jouissance‘ erlernt zu haben, dass in jeder Situation auf sie umgeschaltet werden kann, egal, was gerade passiert und wie es vor sich geht. Hinweise auch zur weiteren Diskussion über das wahre Genießen auf dieser Webseite und in der Beschreibung der Analytischen Psychokatharsis.

 



[1]  Golan, R. Loving Psychoanalysis, Karnak (2006)

[2]  Lettres de L’Ècole freudienne, Nr. 16 (1975) S. 192, wo Lacan die Frage, ob Pflanzen ‚genießen‘, weitläufig diskutiert.