Sterbehilfe?

Warum fährt jemand so weit wie z. B. in die Schweiz zu seiner eigenen Hinrichtung? Vorher sind einige Formalitäten zu erledigen, ja, man muss sogar ein Einverständnis einholen und alle möglichen Umstände akzeptieren , damit man umgebracht werden kann. Natürlich sind Menschen mit schweren Krankheiten, Depressionen und  der Isolierung im Alter oder aus anderen Gründen in einer verzweifelten Lage. Und selbst einfach nur Tabletten schlucken kann schief ausgehen, wenn der Körper die Dosis wieder von sich gibt, bevor sie gewirkt hat oder wenn sie einfach nicht richtig zum Zug gekommen ist. Aber den Charakter einer selbst gewählten Hinrichtung hat das Ganze doch irgendwie.

 

Warum kann man dem Tod nicht auf eine diskursive Weise begegnen, indem man ihm z. B. eine Stimme gibt? Heutzutage machen wir den Tod meist sprachlos, wo es doch notwendig ist, „den Tod in das Dasein hereinzuziehen, um das Dasein in seiner abgründigen Weite zu bewältigen.“[1] „In der heutigen Zeit, die bestrebt ist, jede Negativität aus dem Leben zu verbannen, verstummt auch der Tod. . . Ihm wird jede Sprache genommen. Er ist nicht mehr ‚eine Weise zu sein‘ . . . . Verleugnet man den Tod um des Lebens willen, so schlägt das Leben selbst ins Zerstörende um. Es wird selbstzerstörerisch.“[2] Und so verlangt man den Tod gleich für sich selber und noch dazu mit Gewalt. Der Tod ist kein Gerippe mit einer Sense in der Knochenhand, er ist ein Gesprächspartner, ja geradezu ein Psychotherapeut. Freilich muss man ihn dazu erst einmal ein bisschen umformen, bereit machen und umstimmen. Er spricht nicht in solcher Art von sich heraus, dass es immer ein gutes Gespräch wird. Man muss die Lage vorher klären.

Lacan meinte, dass der Psychoanalytiker mit der „Stimme eines Toten sprechen müsste“. Der analytische Psychotherapeut muss sich weit zurücknehmen, er darf nichts von seinem Ich, seinen Wünschen und Vorstellungen ins Spiel bringen, sondern muss darauf warten, dass der Patient irgendetwas sagt, das zwar keine erhellende Aussage, kein authentisches Eingeständnis und kein Enthüllung ist, aber das etwas vermuten lässt, was hinter den vorgetragenen Vokabeln steckt: ein verstecktes Wort, ja vielleicht nur eine Silbe. Tatsächlich also muss der Therapeut wie tot sein und hauptsächlich nur zuhören und dabei mit „gleichschwebender Aufmerksamkeit“ – wie es heißt – auf derart Verstecktes achten. Eine von Freuds Patientinnen erzählte von einem Traum, zu dem sie nur noch das Wort  Kanal erinnerte, und wozu ihr dann noch der Spruch einfiel: Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt (franz.= pas), nämlich der Kanal von Calais (franz.= pas de Calais). Der Kanal – Schritt war also der vom Erhabenen (Frankreich) zum Lächerlichen (England). Doch der pas in der Erzählung der Dame war ein faux-pas, weil Freud in der Übertragung der Dame deren Assoziation als Kritik an seiner analytischen Methode deutete: seine, Freuds, Methode der Analyse, sei wohl eigentlich lächerlich und gar nichts Erhabenes, interpretierte er.

Denn warum erzählt sie ihm sonst diese Geschichte? Nur aus dem Wort Kanal, konnte Freud diese Deutung ziehen. Je kürzer ein Traum oder eine Assoziation ist, desto bedeutender ist sie auch, meinte Freud, weil desto mehr darum herum verdrängt wird. Nur mit dem Wort Kanal verriet die Dame, dass sie Freud eigentlich für eine Kanaille hielt, wie sie es vielleicht bei ihren Eltern erlebt hatte, oder was sie fürchtete, dass man es ihr selbst nachsagte oder was sie über das Verhältnis von Frankreich zu England verinnerlicht hatte und was sie damit auf Freud übertrug. Kanal leuchtet auf wie eine Schicksalsrune, wie ein einziges Wortklangbild, ein bildhaftes Formel-Wort, in dem sich die unbewussten Assoziationen verdichten. Eine Signifikanten-Kombination in seiner Ur-Form, eine der „ultra-reduzierten Phrasen“ des Unbewussten in Reinform.[3]

Es handelt sich – so könnte man jetzt schließen – nicht um den Therapeuten, der mit der Stimme eines Toten spricht, sondern um das Unbewusste selbst. Aber in dem Sinne, dass der Therapeut den Wortklang aus dem Unbewussten aufgreift und ihn interpretiert, ist er es, der zumindest den analytischen Vorgang, das Sterbensgeräusch des Unbewussten mit seiner Stimme aufgreift und zum Leben bringt. So kann der Tod dem Leben dienen, seine geröchelten oder „ultrareduzierten Phrasen“ eignen sich bestens dafür, zwischen zwei Menschen einen Dialog in Gang zu bringen, der anregt, enthüllt und befreiend sein kann. Denn die Dinge müssen heraus, müssen zur Sprache kommen, und dies tun sie nur, wenn sie den Sterbensweg durchlaufen haben und dazu angeregt worden sind. Wieso zur eigenen vorschnellen und überhasteten Hinrichtung gehen, wenn man noch Interessantes von sich selbst und über das Leben erfahren kann?

In meiner Methode der Analytischen Psychokatharsis habe ich den Sterbensgeräuschen des Unbewussten einen automatischen ‚Umwandler‘, Transformer, Katalysator gegeben. Ich habe derartige Formel-Worte erfunden, wie ich sie gerade erwähnt habe und die einen direkten Austausch, einen direkten Dialog mit dem Unbewussten ermöglichen. Diese Formel-Worte stellen somit tatsächlich fast keine Sprache mehr dar, und auch wenn sie nicht Geröchel sind, so sind sie doch grenzsprachlich und „ultrareduziert“. Ihre ‚Ultrareduziertheit“ erlangen sie allerdings durch etwas, was Freud Überdeterminierung nannte. Nach Freud ist der Traum überdeterminiert, weil die „meisten Traumgedanken ausgiebigste Berührungen aufweisen“ und so „Knotenpunkte“ darstellen, in denen „viele der Traumgedanken zusammentreffen“. Die Traumdeutung müsse daher der Vieldeutigkeit Rechnung tragen, sagt er. Und so sind auch in den Formel-Worten viele Bedeutungen enthalten, die aber in der Formulierung deutlich durch Überlappung der Buchstaben wie Freuds „Knotenpunkte“ verschnürt und selbstüberschneidend, also überdeterminiert sind.

Die Sache verhält sich nur umgekehrt wie im Traum. Der Adept der Methode ist aufgefordert, wie in einer Meditation rein gedanklich diese Formel-Worte zu wiederholen, zu reverberieren, bis im Moment eines Umkippens des Diskurses, im Zentralmoment der ‚Umwandlung‘, des Wortklangbildes aus dem „Knotenpunkt“ heraus etwas gedanklich zu vernehmen ist, was ich nunmehr ein Identitätswort oder Pass-Wort nenne. Einer meiner Adepten, Klienten – oder wie man sie nennen mag, hatte nach monatelangem Üben mit der Analytischen Psychokatharsis die Formulierung bzw. den Gedanken vernommen: „Die Interpretationen des All“. Es hat nicht geheißen „des Alls“, was man als Ausdruck für das Universum hätte nehmen können, aber dem Betreffenden war anschließend an den Übungsvorgang auch diese Assoziation eingefallen. Er dachte jedoch auch daran, dass er sich unbewusst vielleicht wünschen würde, es wäre schön, wenn man „alles interpretieren“ könnte. Schließlich verwarf er aber diesen Gedanken, denn so etwas wäre ja eher ein Unglück, man würde nur ständig in alles etwas hineininterpretieren und könnte sich überhaupt nicht mehr entspannen.

Ich persönlich dachte sofort an Freuds Buch ‚Totem und Tabu‘, in dem Freud die Geschichte des Urvaters erzählt, der wie das Alphatier alle Frauen besitzt, worauf die Horde der Söhne ihn eines Tages umbringt, um an die Frauen zu kommen. Dies enthält auch die zentrale Aussage der Ödipusgeschichte, indem Ödipus den Vater versehentlich tötet und so die ‚All-Frau‘, die schöne und reiche Königin bekommt, die ‚alle Frauen‘ repräsentiert, die in dieser Geschichte aber dummerweise auch seine Mutter ist. D. h. das Dumme daran besteht darin, dass hinter dem Phantasma einer „All-Frau“ immer auch die Mutter steckt, bzw. deren frühe Feen-Hexen-Heilige-Madam-Mutter-Huren-Frau-Form aus der Kindheit, was irgendwie auch eine „All-Form“ darstellt. Ich besprach dies mit dem gerade zitierten Klienten, und er stimmte mir nach einiger Zeit zu. „Daran könnte etwas Wahres sein“, meinte er und erzählte mir von Geschehnissen in seinem Leben, von denen er noch nie gesprochen hatte, von Zwängen z. B., mit denen er erotische Phantasien abwehrte und anderes mehr. Nicht nur das Pass-Wort mit den „Interpretationen des All“, auch noch vieles dazu zu assoziieren und zu enthüllen war für ihn – so sagte er wörtlich – wie Sterben. Einem  Anderen alles preiszugeben stellt eine Art von Tod dar, nachdem man sich jedoch wieder erholt und eine Auferstehung erlebt. Nach einer Hinrichtung erlebt man dies nicht.

 

 



[1] Heidegger, M., Beiträge zur Philosophie, Gesamtausgabe Bd. 65, Verlag V. Klostermann  (2003) S. 285

[2] Byung-Chul Han, Die Austreibung des Anderen, Fischer (2016)  S. 41-42

[3] Lacan nennt die im Unbewussten schlummernden Ausdrücke „ultrareduzierte Phrasen“, denn diese geben nicht sofort ihren ganzen Inhalt und ihre Wahrheit preis, sondern halten sie versteckt und verdrängt, dennoch sind sie nach außen strebend, so dass sie irgendwann und irgendwie zu Tage treten.