Die Signifikanten der Analytischen Psychokatharsis

In vielen Formen des Yoga, so beispielsweise auch im Surat-Shabd-Yoga, wird behauptet, dass die urspünglichsten Kräfte oder die von einer nicht weiter zu erfassenden Einheit, wie es etwa ein unpersönlicher Gott sein könnte, ausgehenden primären Gegebenheiten, ‚Licht‘ und ‚Laut‘ sind. Sicher geht es hierbei um mythische Zuschreibungen. Doch lassen sich diese durchaus auch mit der modernen Physik in Einklang bringen, indem dort von ‚Strahlungen‘ einerseits (Elementarteilchen, Photonen etc.) gesprochen wird, andererseits Schwerkrafteffekte einen Struktur haben, deren Wellennatur rein strukturell unseren geläufigen Schallwellen gleich sind. Gravitationswellensignale lassen sich daher in hörbare Töne "übersetzen. . . überträgt man die Frequenz des Gravitationswellensignals und seine zeitliche Entwicklung auf Schall, so kann man bestimmte kosmische Prozesse hörbar machen. Durch die Abstrahlung von Gravitationswellen verliert ein solcher Doppelstern Energie und die Dichteverteilung im Zentrum einer Supernova könnte dann direkt "hörbar" werden.“[1]

 

„Dazu eine Erklärung am Beispiel zweier Neutronensterne, die umeinander kreisen. Durch Energieverlust kommen die Neutronensterne einander immer näher, die Umlaufzeit wird immer kürzer und auch die Schwingungsdauer der Gravitationswellen (die gerade die Hälfte der Umlaufzeit beträgt) wird immer kürzer, entsprechend steigender Frequenz. Da mit schnellerem Umlaufen auch der Energieausstoß steigt, schaukelt sich der Prozess auf, und kurz, bevor die Neutronensterne sich so nahe gekommen sind, dass sie miteinander verschmelzen, wird die Frequenz merklich immer schneller immer größer. In hörbare Töne übersetzt entspricht das einer Art ‚Zirpen‘ – einem Ton, der leise und tief beginnt, und dann immer höher und immer lauter wird. Für Astrophysiker ist ein direkter Nachweis solch eines ‚Zirpens‘ hochinteressant – der Verlauf des ‚Zirpens‘ enthält nämlich Informationen über die Stärke der ausgesandten Gravitationswellen.“

Der Nachteil dieser astrophysikalischen Bemerkungen ist der, dass sie – wie man so sagt: für den Mann auf der Straße – keine Bedeutung haben. Der Yogaübende dagegen kann wenigstens darauf verweisen, dass er die Erfahrung solch angeblicher Grundkräfte selber haben kann. Nun muss man natürlich sofort einschränken, dass der Yogi nicht das ‚Zirpen‘ der Gravitationswellen hört, sondern eben einen ‚Laut‘, den man zwar auch in Anführungszeichen schreiben muss, denn er hat ja nichts mit dem akustischen Lautphänomen zu tun, das wir tagtäglich hören. Vielmehr – so heißt es – handelt es sich um ein ‚inneres‘ Lautphänomen, wozu man allerdings nicht unbedingt Yogaübungen machen muss. Einen derartigen ‚Laut‘ kann nämlich jeder hören, der sich lange genug in völlige Stille zurückzieht, und viele Menschen erfahren sogar ein pathologisches Geschehen dieses ‚Lautes‘, nämlich einen Tinnitus, ein Lautgeräusch, der vom Hörnerv bzw. direkt vom Gehirn her kommt, das offensichtlich überstimuliert ist.

Eine Lösung des Problems der Kräfte (Urkräfte?) oder primären Prinzipien bietet die Psychoanalyse. Schon Freud hatte von Triebkräften geschrieben, die er auf zwei reduzierte (Eros-Lebenstrieb und Todestrieb). Doch bald war klar, dass es einen Todestrieb, also ein aktives Begehren in Richtung des Todes nicht geben kann. Der Tod ist ein passives Geschehen und auch wenn es Menschen gibt, die es zum Tod hin treibt, so vollzieht sich dies nicht durch ein triebgesteuertes Verlagen, sondern auf Grund psychisch scheinbar unlösbarer Komplexe oder schwerer Depressionen. Deswegen haben die Psychoanalytiker, vor allem z. B. Lacan das Freudsche Konzept dahingehend umformuliert von einer an die Wahrnehmung angelehnter Triebkraft zu sprechen, die schon Freud ‚Schautrieb‘ nannte, und die Lacan mit dem an die grundsätzliche Entäußerung angelehnten ‚Sprechtrieb‘ kombinierte. Mit dem ‚Schautrieb‘ verband Lacan das Phänomen der ‚Phosphoreszenz‘ oder noch besser, weil genereller, der ‚Lumineszenz‘, einem „ultrasubjektiven Ausstrahlen“ wie er auch sagte (was wieder an die physischen Strahlkräfte und das ‚Licht‘ der Yogis erinnert, obwohl es sich um ganz verschiedene Vorgänge handelt)

Und auch der ‚Sprechtrieb‘ lässt in seiner Primärform als ein Phonem, als das Lautelement der Sprache erfassen. Man muss nämlich wissen, dass die von der Psychoanalyse postulierten Triebkräfte letztlich nicht direkt fassbar sind, sie sind nur durch ihre Trieb- bzw. Vorstellungsrepräsentanz im Psychischen erfahrbar, wie ebenfalls schon Freud konstatierte. Dazu haben die Triebe also bereits ein Wandlung durchgemacht, in ihrem rein primären Auftreten – so Lacan – haben sie jedoch sehr wohl etwas mit der Lumineszenz und dem Phonem zu tun. Denn greifbar werden sie uns – egal ob jetzt der Umweg über die Triebrepräsentanz genommen wird oder nicht – durch die ‚Signifikanten‘, die realen Bezeichnungs- bzw. Bedeutungseinheiten, die man nicht weiter bezeichnen oder ihnen Bedeutung geben kann, sind sie doch selber schon die primären Einheiten also solche.[2]

Es wird jetzt nicht kompliziert. Ganz einfach, man kann also nicht hinter die Signifikanten zurückgehen, sie sind eben selbst bereits das Vorgängige, und so ist – laut Lacan – das Universum eben nichts anderes als die Summe aller (wenn auch nicht abzählbaren) Signifikanten. Und alle, ob nun der Yogi, der Physiker oder der Psychoanalytiker, stellen somit als die ersten beiden Signifikanten diejenigen hin, um die sich meine Zeilen schon ständig gedreht haben und denen ich nun doch einen vorläufigen Namen gebe, der allen gerecht werden soll: nicht ‚Licht‘ und Laut‘, nicht Elementarstrahlung und Gravitation, nicht Lumineszenz und Phonem, sondern ein übergreifendes ‚Es‘ in Form eines Es Strahlt und Es Spricht.

Man kann dies sofort kritisieren, denn zwei Signifikanten haben Bezeichnungen bekommen, wo ich sie doch eben noch als das hingestellt habe, wo sie die eigentlichen Bezeichnungseinheiten selber sind. Doch ich kann mich rechtfertigen. Die Signifikanten sind in dem von mir hier angestrebten Fall (es wird letztlich um die Analytische Psychokatharsis als einem Verfahren der Selbstanalyse gehen) nur die Variablen, sie sind eben noch nicht endgültig bezeichnet. Endgültig werden sie nämlich nur durch die signifikante Praxis (Lacan nennt sie auch eine „logische Praxis“), also durch etwas, was jeder einzelne in sich hat und dort nur vorzufinden braucht, und dann ist es ganz egal, ob er das, was er da vorfindet ein Es Spricht und ein Es Strahlt oder anders nennt. Höchstwahrscheinlich wird er es sogar anders nennen. Das Es Strahlt und Es Spricht haben sich ja nur aufgedrängt, weil die Betrachtung verschiedener Wissenschaften wie der Naturwissenschaft (Physik), des Yoga (mythische Wissenschaft) und der Psychoanalyse (Wissenschaft  v o m  Subjekt, logische Praxis) dazu geführt haben, einen übergeordneten Nenner zu benutzen, auch wenn sie verschiedene Vorgehensweisen beinhalten.  

Man kann nichts für endgültig gegeben ansehen. Doch auch dieser Satz ist Schall und Rauch. Ich kann ihn nicht wissenschaftlich und definitiv belegen. Das einzige, was ich tun kann, ist dem Ganzen auch eine mathematische Grundlage zu verschaffen. Ich werde dann aber nicht den ersten Signifikanten eine 1 und dem zweiten eine 0 oder eine 2 unterstellen, sondern sagen, dass eine 1 eine 0 für eine andere 1 repräsentiert (0der dass eine 0 etwas Positives, eine erste These, ein erstes Phonem, also eine 1 für eine andere 0 repräsentiert). Oder sagen, dass die 2 jeweils unterschiedliche 1ser repräsentiert, die zwar zusammen eine 2 ausmachen, aber für sich 1 sind. Der bekannte Anthropologe C. Lévi—Strauss, der fast alle Primärvölker erforschte, konstatierte in ähnlicher eise, dass man ein „Nullphonem“ benötigt, um überhaupt das Sein, das Sprechen und Zeigen untersuchen und davon etwas aussagen zu können. Er konnte das „Nullphonem“ aber nicht finden, er hatte also keine Phonem, das die Null für ein anderes Phonem repräsentiert hätte. Er konnte dies nur so – wenn auch völlig korrekt und zutreffend – schlicht und einfach sagen. Er bezog den Leser nicht direkt in das Verfahren ein, das er selbst betrieb. Er konnte nicht den Signifikanten geben, der ein menschliches Subjekt für einen anderen Signifikanten repräsentiert, er konnte also keinem Menschen seine primärvölkische Natur zurückgeben und bewirken, dass in jedem Menschen das wirkliche „Nullphonem“ als Anfangsphonem, als Schlüssel zu allem anderen auftaucht.

Ich kann dies jedoch tun und zwar folgendermaßen: Ich habe Formulierungen gefunden (aus der lateinischen Sprache, man könnte auch andere Sprachen  verwenden), die in einem einzigen Schriftzug mehrere Bedeutungen enthalten, je nachdem von welchem Buchstaben aus man sie liest. Diese Bedeutungen, meist vier oder fünf, lassen sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen, sie sind zu disparat. Mann soll auch gar keinen gemeinsamen Nenner finden und auch keine der einzelnen Bedeutungen als wichtig (wichtiger als die anderen)  herausfischen, denn das brächte eine willkürliche, persönlich isolierte Bedeutung in den Vordergrund. Der einzelne Buchstabe, das einzelne Phonem, der einzelne Signifikant haben ja auch keine Bedeutung, erst im Zusammenspiel bekommen sie eine, die dann in Richtung auf einen Sinn hin gehen kann. Doch dies gelingt hier, bei dieser Formulierung, nicht, da alle Bedeutungen von vornherein zu disparat sind. Die Formulierung ist irgendwie unsinnig. So etwas hat jedoch einen großen Vorteil. Auch Träume sind unsinnig, und doch kann man in einer Psychotherapie großen Gewinn daraus ziehen.

Setzt man sich also hin und lässt diese lateinische Formulierung so auf sich wirken wie sie ist, kann man zuerst einmal keinen folgenden Gedanken daran anhängen, der dem ganzen Sinn verleiht. Die Formulierung ist zu paradox, scheinbar unsinnig, eine Rätselformulierung wie ein buddhistisches Koan, keine Widerspruchsformel, aber ein mit mehreren nicht zueinander passenden Bedeutungen ausgestatteter Spruch. Doch wenn man ihn nur auf sich wirken lässt, wenn man ihn also meditiert, d. h. gedanklich vor sich stehen lässt oder reverberiert, kommt etwas sehr Erstaunliches zustande: der Rätselspruch entwickelt im Psychischen genau jene zwei Kräfte, Primärsignifikanten, von denen ich ausgegangen bin. Der Rätselspruch tut dies deswegen, weil er ja auch dieses Strahlenartige und Sprachartige in sich enthält. Die Strahlen entstehen durch die Schnittstellen, die Sprache durch die Buchstaben, auch wenn diese überdeterminiert geordnet sind.[3] Ich brauche sie jetzt gar nichts mehr weiter zu benennen, denn dies wird ja bei jedem einzelnen, der sich solch einer Übung unterzieht, von selber kommen.

Denn davon sind ja die Yogis ausgegangen, ‚Licht‘ und ‚Laut‘ sind immer schon da, Lumineszenz und Phoneme immer schon im Unbewussten vorhanden, Es Strahlt immer schon und Es Spricht immer schon. Ich kann diese ganzen Bezeichnungen jetzt also zurücknehmen, denn wer immer auch mit einer solchen Formulierung, wie ich sie gerade oben beschrieben habe, zu meditieren beginnt, wird Erfahrungen in dieser Richtung machen, auch wenn oder vielleicht gerade weil ich nunmehr bereits über drei Seiten hinweg Bemerkungen in dieser Richtung gemacht habe. Aber wie hätte man es anders tun sollen? Wie kann man verhindern, dass ein Text schon in zwei Sätzen eine vielleicht nur minimale Suggestivwirkung haben kann?

Ein Yogi hätte seinem Probanden eine derartige Formulierung gegeben (er hätte sie ein Mantra genannt) und ihm dabei tief in die Augen geschaut. Im Yoga heißt man dies einen ‚Darshan‘, ein durch Yogaübungen erreichter ‚strahlender Blick‘, der den Probanden entzückt, seine Seele erhellt. Beim Weiterüben hätte der Proband immer wieder nach Erklärungen zum Yoga fragen können, bis das Ziel der Meditation erreicht ist, das eben in einer bestimmten Kombination beider Kräfte (Prinzipien, Daten?) besteht. Der Physiker macht uns neugierig mit seinen Forschungen, und wenn wir uns in der Natur und im Universum umsehen, werden wir immer wieder auf die Strahlungserscheinungen stoßen, die er postuliert und durch Erfahren, Lesen und Hören dieser Wissenschaft auch zu einem ähnlichen, vielleicht mehr theoretischem Ziel kommen wie er. Der Psychoanalytiker lässt seinen Probanden durch sehr viel gesprochene Phoneme und Laute an die entscheidenden in dessen Unbewussten herankommen und so erzeugt er zusammen mit seinem Probanden, dass man dem Lumineszenzpunkt, dem innersten Spiegelungspunkt des Schautriebs immer näher kommt.

Doch viel einfacher und wirksamer ist es, eine Meditation in der von mir vorgeschlagenen Weise zu praktizieren. Man setzt sich in (anfangs oft besser mit geschlossenen Augen, wartet und wiederholt rein gedanklich eine oder letztlich sogar bis zu vier oder fünf derartiger Rätselformulierungen. So wie man in der totalen Stille den ‚Laut‘, das Grundphonem des Sprechtriebs, etc., hört, so nimmt man in der Monotonie der mentalen Meditation die Lumineszenz oder wie man es immer nennen mag wahr. Das eine ergänzt und provoziert das andere, was freilich schon wieder zu viel gesagt ist. Dennoch habe ich dem Verfahren den Titel Analytische Psychokatharsis gegeben, in der auch wieder zu viel gesagt ist, aber ginge es ohne Namen?

[1] Die hier und im Folgenden zitierten Abschnitte stammen von dem Astrophysiker Markus Pössel, " Die Wellennatur der Gravitationswellen " in: Einstein Online Band 3 (2007), 1106

[2] Abgeleitet ist das Wesen der von Lacan verwendeten Signifikanten von der Sprachwissenschaft, wo die Signifikanten den Signifikaten, den Bezeichnungen und dem Bezeichneten gegenüberstehen. Nun geht Lacan noch einen Schritt weiter, indem er dem nicht weiter zu bezeichnenden Signifikanten einen anderen Signifikanten (und auch weitere) gegenüberstellt, wodurch ein Erhellungs- und Enthüllungseffekt entsteht, nämlich der nunmehr in seiner Subjektform zu fassende Mensch. Es geht nicht um den biologischen Menschen, sondern um den, der seinem Unbewussten unterstellte, subjektbezogene Mensch.

[3] Unter Überdetermination versteht man, wenn ein Vorgang durch das Zusammenwirken mehrere anderer Vorgänge bewirkt wird. Dies geschieht zum Beispiel bei Traumgedanken.