Subjekt/Objekt-Wissenschaft

In seiner Arbeit "Kant mit Sade" zeigte J. Lacan, dass Kant und de Sade zwar so gegensätzliche Pole sind, wie man es sich nur denken kann, aber ihre Essenzen in der gleichen Küche brauen. So ist das "moralische Gesetz", das Kant in sich verspürt, letztlich das Resultat eines Gleitens der Bedeutung, die von einem Begriff auf den nächsten übergeht: Von der "Freiheit" auf die "Autonomie des Willens", sodann auf die "Sittlichkeit", auf die "Pflicht" und schließlich auf den "kategorischen Imperativ".  Die reine Vernunft sorgt eben dafür, dass der Blick auf das Sinnlich Gute durch ihre eigenen Gesetzmäßigkeiten das Wohlgefallen an der Lust mindert. "Erst in dem Augenblick, wo

das [rein vernünftelnde] Subjekt sich keinerlei Objekt mehr gegenübersieht, stößt es auf ein Gesetz, . . . das reine praktische Vernunft oder Wille ist",[1] also auf eine abstrakte Form von sich selbst. All das heißt somit,  "dass sie [die Vernunft] für keinen Fall gilt, wenn nicht für jeden". Kant vernünftelt bis zum Geht-Nicht-Mehr und begründet damit letztlich die Vernunft aus sich selbst, aus Prinzipien der Prinzipien. Zum Schluss bleibt eigentlich nur noch der reine Vernunftmensch übrig, der prinzipielle Mensch. Die Objekte, um deren Erkenntnis es ging, sind gar nicht mehr nötig, sie sind vergessen, weil ohnehin nicht zu bekommen. So hat man Kants Philosophie die des Idealismus genannt. Das denkende Subjekt ersetzt die reine platonische Idee und ist so sein eigener Anderer.

Bei de Sade ist es genau umgekehrt: Der Blick auf das gute Sinnliche lässt alle Gesetze verschwinden. Die Lustgesetze, die er findet, gelten auf jeden Fall, sind aber für keinen zu verwirklichen. Sie sind einfach zu monströs, zu aberwitzig, sie objektivieren selbst noch den absolutesten Anderen. Damit will ich sagen, dass es zwar auch das/den Anderen als solchen gibt, den absoluten Anderen, der eben auch seine eigenen Lustgesetze hat, die aber bei de Sade nur aus der Lust selbst bestehen, und so macht die Sade`sche Philosophie ein Gemeinschaftsleben unmöglich. Es gibt nur noch Objekte der Lust, und de Sade verlustiert sich ad Infinitum. Im Gegensatz zu Kant findet de Sade seine Objekte stets und überall, prinzipiell-prinzipienlos. De Sade hat – um mit Freud zu sprechen – nur noch ein Trieb-Ich (ein Trieb-Selbst), an dem die Objekte (seine Opfer) das „Variabelste sind“, während Kant versucht im Objekt (Ding) „an sich“ vollkommen aufzugehen und kein Ich mehr zu haben. In seiner Bewunderung über den Sternenhimmel verleugnet Kant, dass es die Lust ist, die Schaulust, die ihn so überwältigt, denn sie hätte ihn noch viele andere Lüste sehen lassen (den zweiten und die noch weiteren „Himmel“!), und weiß Gott, wohin er damit gekommen wäre. So verstärkt er, ja moralisiert, vergöttlicht er den einen, den äußeren Himmel!

De Sade dagegen sieht nur die Lüste, sieht nur lauter innere Himmel (die bei ihm speziell äußere Höllen sind), die Vernunft verdrängt er vollends, denn sie würde sein Paradies auf Erden stören. Schon der geringste Gedanke daran, dass ja ein Anderer ein wirklich Anderer ist, dessen Lust- oder Sozialgesetze vielleicht nach ganz anderen Prinzipien funktionieren als die seinen, macht seine „Philosophie aus dem Boudoir“, in dem er sich an den Misshandlungen spießiger, prüder Frauen ergötzt, zunichte. Aber ist es bei Kant nicht umgekehrt genauso? Indem er das in ihm wirkende Lustprinzip völlig in den großartig entfalteten, in sich zigfach verschachtelten Begrifflichkeiten verschwinden lässt, macht er uns zunichte, uns kleine Erdenbürger, die wir wissen, dass es ein Lustprinzip und ein Todesprinzip gibt. Er lässt uns nur in seinem stringenten SPRECHEN zwanghaft SCHAUEN, nicht ins sinnenhafte Darüber hinaus, während de Sade in seinem stringenten SCHAUEN uns nur immer die gleichen Lustformeln SPRECHEN lässt, nichts anderes.

Mit den Begriffen SCHAUEN und SPRECHEN habe ich zwei – Kant würde sagen: apriorische – Größen eingeführt, die ich ja schon im Titel mit Sichtung und Rede anvisiert habe und die ich noch weiter vereinfacht ein ES STRAHLT und ES SPRICHT nennen werde. Ich werde noch reichlich darauf zurückkommen, ob man das auch so stehen lassen kann. Lacan hat diesbezüglich vom Schau- und Sprechtrieb als den elementarsten Kräften bzw. Trieben gesprochen und damit das Freud´sche Trieb-Struktur-Konzept etwas umformuliert. Aber es ist egal, wie man so etwas genau theoretisiert. Denn so oder so ist klar, dass nach Lacan der Mensch ein in sich gespaltenes Wesen ist. Das SPRICHT, der Sprech-Entäußerungstrieb hat ihn im Gegensatz zu anderen Lebewesen so im Griff, dass er sich nicht einfach mehr auf Instinkte verlassen kann und hinübertaumeln muss zum STRAHLT, dem Schau- Wahrnehmungstrieb. So gibt es auch – wie schon bei de Sade und Kant zusehen war - den uralten Gegensatz von Subjekt (das mehr dem SPRICHT zugehört) und Objekt (das mehr dem STRAHLT zugehört).

Dieser Gegensatz, diese Spaltung ist eine conditio humana, die sich ja auch in dem Doppelbegriff von Rede / Sichtung wiederspiegelt. Für das Kleinstkind existiert dieser Gegensatz, den man auch ein gewisses Grundtrauma der menschlichen Existenz nennen kann, jedoch noch nicht so krass und nicht bewusst. Es hängt an der Brust der Mutter und glaubt, dass diese ein Teil von ihm selber ist. Es selbst, angeführt vom Oraltrieb und so noch ganz Lust-Ich, Mund-Ich, verschmilzt mit diesem Brust-Objekt zu einer scheinbaren und kurzfristigen Einheit. Und wenn es diese Schein-Einheit nicht herstellen kann, wird es aggressiv schreien und um sich strampeln. In diesem Buch wird es immer wieder darum gehen, diesen Ur-Komplex (Freud nannte ihn der Kastrationskomplex, indem er diese Spaltung auf das Sexuelle bezog) in seiner Enge, Kompaktheit zu belassen, ihn aber gleichzeitig auf eine hohe Ebene des Bild- / Sprachlichen, der Rede / Sichtung, des STRAHLT / SPRICHT zu überführen.

Die Psychoanalytikerin F. Hennningsen meint, dass diese fürhkindliche Schein-Einheit sich bei schwerer traumatisierten Menschen zu einem Fusions-Objekt verinnerlichen kann und zwar eben besonders dadurch, wenn diese frühe Phase des Lebens gestört verläuft, also die Mutter z. B. nicht immer adäquat auf das Kind eingeht, weil sie etwa selbst depressiv ist und Ähnliches mehr. Dann ist die Spaltung noch einmal vertieft oder – wie Henningsen sagt – konkretistisch, körperhaft, geworden, weil sie einen psychischen Komplex (Fusions-Objekt) in sich eingesponnen hat. In einer Psychoanalyse kann sich dies dann in der sogenannten Übertragung[2] derart auswirken, dass Analytiker und Analysand unbewusst, unbemerkt eine solche konkretistische Übertragungsfusion eingehen und es lange dauert, bis sie diese klar erkennen und auseinanderhalten können. Denn Subjekt und Objekt müssen klar getrennt wahrgenommen und verinnerlicht werden und so differenziert symbolisiert, worthaft ausgedrückt werden können. Ich will vorerst nur festhalten, dass jeder Mensch in sich eine basale Art von Spaltungstrauma trägt, die eben die oben genannte von Subjekt (SPRICHT) und Objekt (STRAHLT) beinhaltet, und mit dem der Mensch in seinem Leben fertig werden muss, um eine gewisse Einheit für sich und seine unmittelbare Umgebung zu erreichen. Und dass es aber bestimmte Menschen gibt, die noch zusätzlich traumatisiert wurden und deshalb eine analytische Psychotherapie benötigen.

Henningsen hat bei ihren Langzeitanalysen von oft ca. 800 Stunden jedoch empfohlen, ein zusätzliches Verfahren anzuwenden, um die Therapie zu vertiefen und zu verkürzen. [3] Hier zeigt sich dann am deutlichsten, dass die Analytische Psychokatharsis ein wichtiger Bestandteil auch klassischer Psychoanalyse sein kann. Ich sehe es aber auch oft so, dass die Analytische Psychokatharsis selbst das Hauptverfahren ist und alle paar Wochen eine analytische Sitzung der ergänzenden und evtl. abschließenden Deutung gilt. Die ist meist sogar effektvoller, mit weniger Zeitaufwand erreichbar und ohne die Nachteile störender Gegenübertragungen oder sogenannter Fehlerkulturen, die sich bei vielen Analytikern fixieren. Über letztere hat erst vor kurzem A. P. Herrmann ausführlich berichtet.[4]

In der Analytischen Psychokatharsis finden sich Subjekt und Objekt in einer zwar rein formalen, aber doch auch idealen Weise vereint. Die Einheit, die in der Physik oder anderen Naturwissenschaften wie z. B. der Biologie versucht wird, vermeidet den Subjektbezug. Dagegen – wie wir es ja bei Kant gesehen haben – gelingt den Geisteswissenschaftlern keine ausreichend objektive Darstellung. Sie verbleiben in einem sehr stark subjektiven und nur wenig objektiven Bezug. Es wird auch nie möglich sein, eine unmittelbare Einheit beider Bezugsgrößen erfahren zu können. Eine solche kann meist nur virtuell geboten werden, wie es etwa in den Religionen der Fall ist. Hier ist Gott die Einheit hinter all dem Dualismus, der die Welt, aber auch das sogenannte ‚Spirituelle’ beherrscht. Doch ein formaler Bezug, wie er in den Übungen der Analytischen Psychokatharsis möglich ist, erlaubt die Einheit in sich selbst zu realisieren.



[1] Lacan, J., Das Ich in der Psychoanalyse Freuds, Seminar Walter (1975) S. 135

[2] Übertragung unbewusster Bedeutungen des Patienten auf den Analytiker

[3]Henningsen, F., Psychoanalysen mit traumatisierten Patienten, Klett-Kotta (2013)

[4]  Herrmann, A. P. Behandlungsfehrer und Fehlerkultur in der psychoanalytischen Praxis, PSYCHE Nr. 7 (2016)