Wahrheit und 'Rätselsprache'

Die Wahrheit über die Wahrheit lässt sich nicht sagen. Überhaupt residiert die Wahrheit nur intersubjektiv, also zwischen zwei oder mehr menschlichen Subjekten, und selbst das ist noch recht ungenau. Denn nach psychoanalytischer Ansicht befindet sich an dem Platz, an dem man das Wahre über das Wahre sagen könnte, die sogenannte Urverdrängung. Bei der Urverdrängung handelt es sich um etwas, an dem alle Subjekte leiden, allerdings meist ohne es zu merken. Wir merken vielleicht, wenn wir etwas verdrängen oder verdrängt haben, aber dass es dahinter noch einen Vorgang geben soll, der uns alle zu völlig gespaltenen Wesen macht, klingt gar nicht gut. Freud meinte aber, man müsste es so verstehen, sonst könnte man den üblichen Verdrängungsvorgang nicht begreifen. Und so hat die Wahrheit kaum eine Chance irgendwo wirklich gesagt zu werden. Andererseits sehen die Psychoanalytiker gerade in der Wahrheit die Ursache aller Symptome, ja, selbst die Tatsache, dass die Menschen sprechen können, dass sie Worte und Sätze austauschen können, kommt daher, dass die Wahrheit dahin gedrängt hat.

 

Irgendwie versucht die Wahrheit ständig ‚Ich‘ zu sagen, meint Lacan.[1] Sie kann sich nur persönlich äußern, also durch Enthüllung, durch Geständnis, durch Preisgabe. Dann ist sie echt, authentisch und eben persönlich wie das ‚Ich‘ es ist, wenn es sein eigenes Unbewusstes in seine Äußerungen mit einschließt. So gesehen habe ich hier in diesem Artikel kaum eine Chance, die Wahrheit zu sagen. Nun sagen die Leute immer: es gibt nicht die eine Wahrheit, die ganze, absolute. Das ist sicher richtig. Manche sagen dann aber auch, es gibt eben viele Wahrheiten. Doch so kommt man schon gar nicht wirklich weiter. Besser ist es doch zu sagen, wenn es die absolute Wahrheit nicht gibt, wenigstens die Annäherung daran zu suchen.

Alle Welt, insbesondere auch die wissenschaftliche, hält ihre Art von Diskurs für einen Diskurs der Wahrheit, auch wenn es um die materielle Natur geht. Doch hier wird nur Wissen kommuniziert und nicht Wahrheit. Und so glaubt eben jeder, der irgendetwas sagt, dass sein Diskurs ein Wahrheitsdiskurs ist, was sonst? Die beste Annäherung an die Wahrheit, die meiner Ansicht nach möglich ist, liegt daher in der Verwendung von etwas, das ich eine ‚Rätselsprache‘ nennen würde. Denn ein Autor, der solch eine Sprache benutzt, spricht zwar nicht direkt eine Wahrheit aus, aber er lügt nicht und verfälscht auch nichts. Er verfährt dann ähnlich, wenn auch vielleicht umgekehrt wie die Japaner, von denen Lacan behauptet, sie würden immer nur in einer verdrehten Weise die Wahrheit sagen, also beispielsweise alles in extremen Höflichkeitsformeln verstecken, aber damit dennoch das ausdrücken, was sie sagen wollen und was der Hörer – kennt er den Code dieser ‚Rätselsprache‘ – auch verstehen kann.

Noch deutlicher wird Derartiges im zenbuddhistsichen Koan sichtbar. Die Rätselsätze und Worte sind scheinbar völlig absurd wie etwa: ‚In beide Hände klatschen ergibt einen Ton. Wie klingt der Ton beim Klatschen nur mit einer Hand?‘ Der Zenschüler muss sich ganz der Le(e)hre des Meisters ergeben, um darauf eine Antwort zu finden. Vergleichbares haben auch Mystiker aller Kulturen getan, die ja oft mit normalen Sätzen das tiefe Geheimnis ihrer mystischen Erfahrungen nicht ausdrücken konnten. Dies kommt am eklatantesten in der Alchemie zutage, die der Freudschüler C. G. Jung untersucht hat. So lautet ein Satz der alchemistischen Psychologen so: „In der Tat ist es eine Substanz, in der alles enthalten ist, und das ist der Sulphur Philosophorum, welcher Wasser ist, und Seele, Öl, Mercurius und Sol, das Feuer der Natur, der Adler, die Träne, die erste Hyle der Weisen . . .“[2] Und auch Psychoanalytiker versuchen heutzutage Ähnliches mit ihrer wissenschaftlichen Behandlungstechnik zu erreichen. So meint Lacan, dass der analytische Diskurs sich nicht für einen Diskurs der Wahrheit hält, vielmehr benutzt auch er das Rätsel, nämlich die Übertragung und deren Auflösung, in dem sich der so Sinn zuspitzt, dass noch am ehesten etwas Wahrheit zutage kommt. Doch kann ich hier in diesem Artikel keine Abhandlung über die Psychoanalyse schreiben. Ich kann jedoch das Wesen der ‚Rätselsprache‘ anhand der erklären.

In der Analytischen Psychokatharsis ist das Übertragungs-Objekt, das der Therapeut also darstellt, samt dessen Auflösung in einer Formulierung eingepackt, die in einem einzigen Wortzug mehrere Bedeutungen enthält, so dass man sich auf keine festlegen kann. Darin liegt also das Rätsel. Übt man eine derartige Formulierung jedoch mental wie in einer Meditation, kommt – meist erst nach längerem Üben – ein Pass- oder Identitäts-Wort aus dem Unbewussten heraus, das das Rätsel löst (siehe die wissenschaftliche Begründung in den Veröffentlichungen auf der Webseite). Das Unbewusste äußert sich dabei in einem fast stimmlichen Gedanken, also in einem Gedanken, der einem wie von fern her zukommt oder wie automatisch gedacht und erfasst wird. Er enthält die Wahrheit des Subjekts, die ihm sonst keiner sagen kann. Alles sonst auf der Welt ist nur Gerede.



[1] Lacan, J., Écrits, Ed, Seuil (1966) S. 409

[2] Jung, C. G., Psychologie und Alchemie, Walter-Verlag (1972) S. 272