Die Heuristik der Wahrheit

Die Heuristik (abgeleitet von griechisch heurisco = ich finde) ist eine in der Psychologie und Wirtschaftswissenschaft – aber auch in anderen Disziplinen – übliche Verfahrensweise, um vereinfachte Lösungen für Probleme zu finden. In einem neueren Buch beschreibt der Psychologe und Wirtschafts-Nobelpreis¬träger D. Kahnemann verschiedene dieser Heuristiken.  So gibt es z. B. kognitive und Affekt-Heuristiken. Bei den letzteren werden also starke Gefühle und Affekte eingesetzt, um einen Weg für ein Problem zu finden. Dieser Weg ist sicher im Alltagsleben nicht selten aber wohl auch nicht sehr zuverlässig. Doch auch andere, scheinbar anspruchsvollere Heuristiken sind nicht immer ganz einwandfrei und klar. Vor allem aber bewegt mich die Frage, inwieweit diese Heuristiken auch etwas mit der Wahrheit zu tun haben oder ob sie nur ein Spezialistenwissen für Detailfragen darstellen. Eine Wahr-heitsheuristik findet sich bei Kahnemann nämlich nicht. Für ihn kommt der Begriff der Wahrheit nur im Zusammenhang mit dem der Illusion vor. Vertrautheit und Wahrheit sind für ihn sehr ähnlich, weil das, was einem gut bekannt und vertraut ist, auch gerne für wahr genommen wird. Dennoch kreist Kahnemanns Buch ganz entscheidend um Wahrheitsfragen.


Bei den geschilderten Illusionen und Selbsttäuschungen handelt es sich natürlich um einen sehr alltäglichen und oberflächlichen Begriff von Wahrheit. Kahnemanns „wahr“ steht eher ein „falsch“ gegenüber und nicht eine Lüge. Es geht bei Kahnemann eigentlich um ein falsch und richtig, während wir in der Psychoanalyse eine ganz ernste und umfassendere Wahrheit einer ebenso ernsten und umfassenden Lüge bzw. einem  unbewussten Sich-Selbst-Belügen gegenüberstellen. „Das Unbewusste“, sagt Lacan, „ist das Kapitel meiner Geschichte, das weiß geblieben ist oder besetzt gehalten wird von einer Lüge“.  „Es ist der Teil des konkreten Diskurses als eines überindividuellen, der dem Sub-jekt bei der Wiederherstellung der Kontinuität seines bewussten Diskurses nicht zur Verfügung steht“. Es handelt sich also weniger um eine Lüge des bewussten Ichs, sondern des mehr unbewussten Ichs, eine Lüge im ES. Trotzdem ist es eine Lüge, die sich meist sogar zu einer Art von Lebenslüge steigert. Selbstverständlich geht es bei Kahnemann auch um unbewusst verfertigte Wahrheitsillusionen, aber sie haben meist nicht den Wert von Lebenslügen und schweren Verkennungen des Selbst.
Kahnemanns Ausführungen betreffen vor allem einfache psychologische Experimente mit Versuchspersonen, meistens Studenten. Diesen Personen werden Fragen gestellt oder Formulierungen angeboten, zu denen sie sich nach verschiedensten Kriterien äußern sollen. Dabei werden Bahnungs- (Priming-) und Hemmungseffekte, Kurz- und Fehlschlüsse und vieles andere mehr beschrieben. Eines der häufigsten Fehler der Versuchspersonen liegt beispielsweise darin, dass sie bei etwas ausgeschmückten Fragen in ihren Antworten die sogenannten Basisinformationen bzw. Basisraten nicht oder viel zu wenig beachten. Mit Basisinformationen bzw. Basisraten ist z. B. gemeint, dass jeder Student ungefähr weiß, welches Studienfach sehr häufig (wie etwa Betriebswirtschaft) und welches recht selten (z. B. Archäologie oder Mediävistik) gewählt wird. Es geht also um allgemein statistisches Wissen. Nun soll die Versuchsperson raten, welches Fach wohl ein besonders sensibler, eigenbrötlerischer Mensch zu studieren begonnen hat, wobei außer Betriebswirtschaft noch einige ziemlich seltene Fächer zur Auswahl standen. Die Versuchspersonen vergessen dann völlig, dass rein statistisch - also von der Basisrate her -  gesehen auch ein feinfühliger und eigenbrötlerischer Mensch mit größerer Wahrschein-lichkeit dennoch Betriebswirtschaft studiert, weil dies einfach extrem häufig ist, und nicht unbedingt und prozentual häufig Mediävistik als Studienfach wählt. Die Versuchspersonen lassen sich von den ihnen geläufigen Basisinformationen durch die Charakterinformationen ablenken und tippen in einem hohen Prozentsatz daneben.
Nun ist das Ganze ja nicht so tragisch, wenn man bei so einer Befragung mal falsch liegt, so wie man ja auch von Werbemaßnamen nie ganz unbeeinflusst bleibt, obwohl man im Großen und Ganzen doch seiner Persönlichkeit einigermaßen treu bleibt. Doch Kahnemann führt auch viele andere Experiment-Ergebnisse an, die noch etwas wunderlicher klingen. So stellte Kahnemann seinen Versuchs-Studenten die Frage: War Gandhi mehr oder weniger als 144 Jahre alt, als er starb? Wie alt war Gandhi als er starb? Allen Versuchspersonen war klar, dass 144 Jahre eine utopische Zahl ist, dennoch ließen  sich die Versuchspersonen durch die hohe Zahl zumindest dahingehend ver-leiten, das Sterbealter Gandhis höher anzusetzen, als wenn sie einfach nur danach gefragt wurden, wie alt Gandhi bei seinem Tod gewesen war. Die vorher genannte hohe Zahl suggeriert anscheinend eine Neigung zu einem höheren Sterbealter, selbst wenn diese Zahl selbst für irrational angesehen wurde. Viele, fast die meisten von Kahnemanns Experimenten laufen ähnlich ab und muten oft seltsam an. Er selber sagt, dass ihm Kritiker manchmal Irrationalität vorgeworfen hätten. Seine Experimente seien absurd. Doch ich glaube, dass man ihm nicht Irrationalität vorwerfen kann, denn er baut alles sehr rational verständlich auf und zieht auch mit hoher Wahrscheinlichkeit die richtigen Schlüsse daraus. Was man ihm aber vorwerfen kann ist ein hoher Grad von Irrelevanz.
Denn wann kommt jemand in die Lage eine Frage wie die von Gandhis Tod von über oder unter 144 Jahren beantworten zu müssen? Wann muss sich jemand entscheiden, ob er 900 Dollar sicher erhalten oder zu 90-Prozent 1000 Dollar gewinnen kann (oder umgekehrt sicher 900 oder 1000 zu 90 Prozent verliert) wie Kahnemann in einem anderen Experiment zeigt? Es stimmt sicher, dass die meisten Versuchspersonen bei der Gewinnfrage die sichere Option wählten und bei der Verlustfrage die Lotterieversion. Und das ist auch sicher interessant. Aber es ist auch genauso irrelevant für die meisten Menschen in ihrem durchschnittlichen Leben. Wo bekommt man so seltsame Angebote? Was Kahnemann also tut, besteht darin, dass er hauptsächlich seine eignen Phantasien testet, dass er gerne Studenten aufs Glatteis führt und eine Kuriositätensammlung anbietet, die sicher eindrucksvoll und amüsant zu lesen ist, aber mit der Wahrheit zwischen Forscher und Ver-suchsperson absolut nichts zu tun hat. Es ist – wie Lacan dies nennt – ein ausgesprochenes Opfer des universitären Diskurses. Die eigentliche Lebenswahrheit der Menschen interessiert ihn nicht.
Lacan hat in seinem 17. Seminar vier Grund-Diskurse dargestellt. Den Diskurs des Herrn, der einfach bestimmt, was zu gelten hat. Dann den neurotischen Diskurs, der versucht Widersprüchlichkeiten im Herrendiskurs dem Herrn gegenüber auszuspielen. Schließlich der Diskurs der Universität, in dem der Universitätslehrer dafür sorgt, dass er auf jeden Fall immer über etwas mehr Wissen verfügt als seine Schüler und Nachfolger. Kurz: er setzt das Wissen nicht an den Platz der Wahrheit, es interessiert ihn vor allem ein savoir pour savoir. Was das Wissen angeht, soll der andere immer noch ein bisschen Knecht bleiben. Erst der Psychoanalytiker hat begonnen, das noch zum großen Teil unbewusste Wissen seiner Patienten ernst zu nehmen und in einem gemeinsamen Diskurs nur das Wissen fördern, das der Wahrheit dient. Doch was ist Wahrheit? Was bedeutet in diesem umfassenderen Sinne Wahrheit? Diese Frage stellte schon Pilatus zu recht an Jesus.
Kahnemann stellt z. B. ein Experiment vor, in dem eine der Versuchspersonen (alle waren nur durch Kopfhörer verbunden und saßen in extra Kabinen) als Strohmann auftreten musste, der einen epileptischen Anfall vortäuschte. Nur einige wenige traten aus ihren Kabinen heraus, um dem angenommenen Versuchs-Kollegen zu helfen. Fazit: kaum ein Mensch unserer heutigen Zeit ist hilfsbereit. Aber ist dies die Wahrheit? Erstens war es schon seltsam, dass der Strohmann bereits vorher berichtete, er sein Epileptiker (jeder musste eine kurze Vorgeschichte erzählen). Prompt bekommt er dann Minuten später einen Anfall, in dem er zu sterben glaubt. Hier hat Kahnemann selbst die Basisrate vergessen, dass ein Tod durch epileptischen Anfall sehr selten ist. Die anderen Versuchspersonen konnten also annehmen, dass sie ohnehin nichts tun können und ein Tod (basisratenmäßig) unwahrscheinlich ist. Vor allem aber war die Schilderung des Strohmanns durch die Kopfhöreranlage sehr skurril und unplausibel. Der Strohmann kündigte an, er spüre einen Anfall kommen. Da solche Anfälle ja meist von selber wieder verbleiben, äußert dies der Betreffende wohl selten lautstark vorher. Doch dann rief der Strohmann dramatisch: „Bitte . . .  helf . . .  Hilfe-oh-oh-oh [Würgegeräusche]. Ich … ich sterbe-er-er-er ich… sterbe-er-er … Ich … Anfall [Würge-geräusche, dann still].“ Das ganze klingt total nach Künstlichkeit und Hysterie und nicht nach einem wirklichen epileptischen Anfall, bei dem der Kranke gar nichts mehr – und schon gar nichts so Differenziertes wie noch am Schluss das Wort Anfall - sagen kann.
Mit Sicherheit kann man so nicht Hilfsbereitschaft testen. Hilfe im Alltag bei unklaren Situationen ist oft sehr schwierig. Behinderte wollen oft grundsätzlich keine Hilfe, sie wollen nicht ständig als hilflos dastehen und selber die Situation zu meistern suchen. In Kahnemanns Beispiel hätte man erwartet, dass der Studienleiter sofort einen Arzt ruft, alles andere hätte ja keinen Sinn gehabt. Das mussten auch alle Teilnehmer denken, einige sind dann doch verunsichert aus ihren Kabinen gekommen. So spiegelt auch Kahnemanns Fazit bei einem anderen Test nur sein eigenes konstruiertes Studiendesign und seinen eigenen Charakter wieder: „Weil wir dazu tendieren, Menschen, die uns gefällig sind, freundlich zu behandeln, während wir zu denen, die es nicht sind, gemein sind, werden wir aus statistischen Gründen dafür bestraft, nett zu sein, und dafür belohnt, gehässig zu sein.“ Ich war noch nie zu jemanden gemein. Ungefälligen Mensch gegenüber bleibe ich einfach neutral oder habe vielleicht zum Glück ein schlagfertiges humoriges Wort parat.
Dass ich Kahnemann so für seine Irrelevanz und seine unernsthafte bzw. fehlende Wahrheitsliebe kritisiere, hängt damit zusammen, weil ich sein Buch aus anderen Gründen gerne gelesen habe und einige seiner Grundvorstellungen recht gut finde. Er postuliert ein schnelles (System 1) und ein langsames Denken (System 2). System 1 bezieht sich auf das mehr intuitive, spontane, mehr gemütsbezogene Denken, das sehr schnell Schlüsse zieht, die jedoch meist nur annähernd richtig sind. System 2 dagegen vertritt das rationalere, statistisch relevantere ausführlichere und damit jedoch auch langsamere Denken. Kahnemann korreliert die beiden Systeme auch mit zwei diesen Systemen entsprechenden Selbsten, also Ich-Gehirn-Unbewusstes betreffenden psychischo-physischen Komplexen. Selbst 1 ist das erlebende Selbst, Selbst 2 das erinnernde. Kahnemann gibt jedoch nur eine kurze Empfehlung, wie man das Zusammenwirken der Systeme und Selbste verbessern kann. Man sollte System 1 öfters mal zurückschalten und System 2 um korrigierende Hilfe bitten, schreibt er. Das ist natürlich angesichts seiner vielen Erfahrungen und Forschungen wohl etwas wenig. Hier und auch diesbezüglich der Wahrheitsfindung muss man ihn um eine psychoanalytische Dimension erweitern.
Denn die zwei Systeme und Selbste wirken ja ständig in-, gegen- und miteinander. Es muss eine klare Anweisung, ein klares Verfahren geben, die Zusammenarbeit dieser beiden Grundordnungen zu verbessern. In meinem Buch „Das konjekturale Denken“ habe ich auf dieses Problem hingewiesen. Ich konzipierte nicht ein langsames und schnelles Denken, sondern das übliche, ans Sprachliche gebundene Denken (das eher dem Selbst 2 entspricht) und ein Nicht-Denken (etwa Selbst 1). In gewissen Momenten, die man auch durch Übungen verstärken kann, vermischen sich diese beiden Denkformen zu eben diesem „konjekturalen Denken“. Das  lateinische  Wort  conicere  heißt  vermuten – hier in diesem Fall sehr präzise vermuten. Der Begriff stammt von Nikolaus v. Kues, der behauptete, durch zunehmend präziseres Vermuten kommt der Mensch zur höchsten Wahrheit. Die allerhöchste allerdings, die veritas rerum, die Wahrheit der „Dinge“, erreicht er nicht. Die sei Gott vorbehalten. Auch der Philosoph P. Sloterdijk erwähnt in seinem Buch „Du musst das Leben ändern“ (S. 272) das „präkonfuse“ oder „kontrakt-symbolische Denken“, deren Zusammenspiel ebenso wohl große Ähnlichkeit mit meinem Begriff des „konjekturalen Denkens“ hat. Das präkonfuse, das System 1 oder Quasi-Nichtdenken (praktisch ganz am Rande der Sprachlichkeit stehende) Denken steht also dem rational-symbolischen Denken gegenüber. Wie bringt man nun die beiden zusammen und warum ist dies wichtig? Auch Sloterdijk zeigt wie Kahnemann keine praktisch logische Lösung auf.
Nun könnte man gerade hinsichtlich Kahnemanns Buch sagen, dass eine solche Lösung aber auch die Wahrheitsheuristik als grundlegend für jeden Menschen nicht seine Intention war. Doch das Buch Kahnemanns ist in Amerika bereits ein Bestseller und auf der Innenseite des Umschlags steht, dass es unser Denken verändern wird und gezeigt wird, wie unser Gehirn (ich habe auch psychisch unbewusst dazu gesetzt) funktioniert. Damit hat es doch eine sehr breite und bedeutende Dimension. Mit der kann ich nicht konkurrieren, wenn ich jetzt mein Verfahren der Analytischen Psychokatharsis erneut ins Spiel bringen will. Ich verweise dazu auf andere Artikel und Bücher von mir und lasse es dabei bewenden, dass ich in diesem Verfahren jedem eine ganz eigene Mitwirkung an der Wahrheitsheuristik ermögliche.