Erich Kandel und die Neuroästhetik

Erich Kandel ist sicher einer unserer größten Wissenschaftler. Er ist Nobelpreisträger, Mediziner, Biologe, Hirn- und Gedächtnisforscher. In seinem neuesten Buch „Das Zeitalter der Erkennntnis, Die Erforschung des Unbewussten in Kunst, Geist und Gehirn von der Wiener Moderne bis heute" versucht er nicht nur einen umfassenden Einblick in seine Arbeit zu geben, sondern noch darüber hinaus eine Überschau und neue Theoretisierung des Freud´schen Unbewussten zu vermitteln. Immer wieder kommt er auf Freud zurück, der den Grundstein zu diesen Wissenschaften gelegt hat und auch Zusammenhänge mit der Kunst diskutiert hat. Doch man hat von Anfang an das Gefühl, dass Kandel die Freud´sche Psychoanalyse, aber auch die Psychoanalyse im Allgemeinen nicht verstanden hat.


Im Jahr 1911 weilte S. Freud in Südtirol am Ritten um seine silberne Hochzeit zu begehen und über den Ursprung der Religion nachzudenken. Bekanntlich war das Ergebnis der Gedanke, dass die Religion aus dem Mord am Vater und der diesbezüglichen pusthumen Schuldgefühle entstanden ist, indem man dann diesen toten Vater zu einem Gott erhob. Natürlich genügte es auch, wenn man den Vater so richtig missachtet hatte und nach seinem Tod in Angst- und Schuldgedanken verfiel. Doch gab es für die Entstehung der Religion auch andere Motive. Schließlich sind die ersten Religionen ja aus einem allgemeinen Animismus entstanden. Man hielt alles für belebt, manches war furchterregend, manches positiv inspirierend. Eine derartige Auffassung würde sich - psychologisch gesehen - mehr auf die Mutter beziehen, die - so würde man es psychoanalytisch erklären - für das Kleinkind noch ein unkontrolliertes Überich darstellt. Noch hat der vater (den ich hier jetzt absichtlich klein schreibe) in diese allumfassende belebte Mutterwelt nicht so hineingewirkt, dass er ein verlässliches Stabilitätsmoment in diesen Animismus eingebracht hätte. Erst ein durch das Leben erfahrener und durch erste Sprachelemente sich etwas differenzierter ausdrückenden Vater konnte ein kontrollierteres Überich bewirken. Dieses war, wie man heute ja noch an psychisch Kranken oft sehen kann, zwar kontrollierter, aber auch sehr streng und rigide, und so ähnlich verhielten sich ja auch die ersten Götter. Sie waren zwar fixe Größen, aber oft hart und willkürlich. Ob man also Mord und Schuldkomplexe gegenüber der Vaterfigur oder wechselnde Zustände, mal hypomanisch, mal grausam vernichtend in Bezug auf die Mutterfigur annimmt, ist eigentlich egal. Die Mutter-und Vaterfiguren nehmen durch die Vergöttlichung zwar ein Stabilitätsmoment an, das aber dann nur schlecht und recht dem gesellschaftlichen Leben einen zeitweiligen Inhalt gibt.


So ist es auch noch heute. Unsere Götter sind jedoch nicht mehr kulturbildende Götter und Heilige, die kontrolliert aber tot oder unkontrolliert lebendig sind, sondern Wissenschaftler, die uns weiterbringen aber auch zurückwerfen können. Denn so wie Gott keine Garantie dafür war, dass das Leben friedlich verlief, so machen auch Wissenschaftler Fehler. Aber so wie es früher schwierig war sich gegen Gott und seine heiligen Vertreter zur Wehr zu setzen, ist es eben heute mit den Wissenschaftlern. E. Kandel kritisiert Freud insbesondere dahingehend, dass dieser von der weiblichen Sexualität nichts gewusst hätte. Kandel beschäftigt sich vorwiegend mit den Künstlern Klimt, Schiele und Kokoschka, die die weibliche Erotik offen, ja geradezu provozierend gezeigt haben, während er Freud zitiert, für den das weibliche Sexuelle ein „dunkler Kontinent" geblieben ist. Diese Bilder, die oft masturbierende weibliche Akte zeigen, würden laut Kandel doch demonstrieren, dass die Frauen den Männern in der Erotik nicht nachstehen und oft die gleichen Phantasien haben. Doch Freuds Auffassung war Folgende: Es gibt nur eine Libido, nur eine Art der erotischen Lust, die Freud als aktiv und männlich charakterisierte. In der sogenannten „phallischen Phase" so um das 4., 5. Lebensjahr herum, würden Mädchen wie Knaben zwar die gleichen Gefühle und Einstellungen für das Sexuelle erfahren. Erst später, in der „genitalen Phase" der Pubertät würden sich dann Unterschiede für Jungen und Mädchen entwickeln. Dennoch weist der Begriff „phallisch" einerseits auf die vermehrte, vordergründige Sichtbarkeit des Männlichen Genitales und auch auf die rätselhafte Tumeszenz dieses Organs.

So war es Freuds Auffassung, dass sich bei den Frauen etwas Vergleichbares und doch auch ganz eigen Weibliches und damit Anderes finden lassen müsse. Es müsse versteckt hinter dem mehr aktiven und männlichen, „phallischen" Sexuellen etwas typisch Weibliches geben, das inzwischen viele Psychoanalytiker mehr und mehr herausgearbeitet haben, insbesondere auch Lacan. Demnach gibt es gerade aus den Frühformen der libidinösen Entwicklung ein spezifisch als „weibliches Genießen" (jouissance feminine) zu titulierende Form weiblicher Erotik, für die das Wort „sexuell" und „phallisch" gar nicht mehr passend ist. Es verhält sich jedoch so, dass die Frauen dieses ihnen eigene Genießen nicht schätzen, nicht richtig werten und entwickeln, sondern sich eben mehr an das mehr männlich zu bestimmende Sexuelle anlehnen, z. B. eben in der „phallischen" Phase. Es gibt also doch einen Unterschied der Geschlechter, der allerdings gar nicht so einfach sichtbar gemacht werden kann, denn das „weibliche Genießen" wird nicht nur von den Frauen gering geschätzt, es wird von der männlichen Seite her natürlich noch mehr verkannt, als es die Frauen selbst schon tun. Genau hier liegt auch das Verkennen von E. Kandel in seinem neuen Buch.

Zur Verdeutlichung des Themas über die psychische Seite der Erotik und des Sexuellen bei Mann und Frau möchte ich Lacan anführen : In seinem XX. Seminar, wo es hauptsächlich um die Liebe und den Sex ging, zeichnete Lacan folgendes Schema (unten) an die Tafel. Zum einfacheren Verständnis betrachten wir nur die unteren Kästchen mit den großen Pfeilen. Das männliche Subjekt ist gespalten (S), denn es besteht auch noch aus der Identität mit Phi, dem griechischen Buchstaben Ф, dem phallischen Signifikanten, dem Symbol der Begehrenskraft, der als männlich konstituierten Mächtigkeit. Seine Strebungen richten sich auf das in der Frau gefundene Begehrensobjekt a, das Lacan mit kleinem a schreibt, weil es zwar anderes ist, aber doch auf der eigenen und gleichen libidinösen Ebene liegt, während groß A, der/das wirklich und total Andere der Ort der symbolischen Ordnung ist, Ort der Sprache, Ort der Signifikanten und hier somit auch Ort der „sexuellen Wahrheit".

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Wo das Der des Mannes noch verständlich ist, weil hier - im libidinösen Bereich - jeder Mann doch irgendwie gleich „Der Mann" ist, ist das Die der Frau nicht so universalierend (als Die generell Definierbare) zu gebrauchen und daher Die geschrieben. Die Frau ist vielschichtiger. Ihre Strebung richtet sich zwar auf die scheinbare Mächtigkeit des Mannes in Ф, schließt sich aber auch in ihr selbst zum Kreis, ausgedrückt mit dem S (A). Als Subjekt ist sie nicht so gespalten wie der Mann, sie hängt auch am A, diesem wichtigen Anderen der Bedeutungsgebung, jedoch nur in gebrochener Form. Eben, sie glaubt dies durch die Anlehnung an Ф ausgleichen zu können, so wie der Mann glaubt, seine autoerotische Selbstliebe im Gebrauch von a befriedigen zu können. Der Mann findet die „sexuelle Wahrheit" nur durch die Frau, doch die Frau sagt sie ihm nicht, da sie ihr ureigenstes Genießen nicht weiß. Im oberen Kästchen der Abbildung sind die gleichen Verhältnisse in Form der Quantorenlogik (All- und Existenzquantor) ausgedrückt.


Kandel schwelgt also in der weiblichen Erotik, die in seiner Darstellung aber nichts anderes als ein männliches Sexuelles ist. Doch er hat Freud nicht nur diesbezüglich falsch interpretiert. Gerade auch auf dem Gebiet des Gedächtnisses, auf dem er doch so erfolgreich gearbeitet hat, macht er einen entscheidenden Fehler. Kandel hat bei der Aplysia-Schnecke biologische Formen des Gedächtnisses entdeckt und sogar nachgewiesen, wie kurzfristige und langlebige Gedächtnisformen sich biologisch unterscheiden. Auch unterscheidet er im Einklang mit anderen Neurowissenschaftlern und Kognitionsforschern das implizite, unbewusstere vom expliziten, besser zugänglich und erinnerbarem Gedächtnis. Doch selbst wenn man diese Unterscheidung für das Freud´sche Konzept so beibehält, weiß Kandel nicht, dass das Gedächtnis bei Freud nichts mit Biologie zu tun hat. Bei Freud ist es so, dass das, was am besten im Gedächtnis gespeichert ist, am schlechtesten erinnert werden kann. Es handelt sich bei Freud nicht um neuro-biologische Vorgänge, sondern um seelische Abwehrmechanismen wie etwa Verdrängung und Spaltung, die Affekte und Bedeutungen ständig so sehr wegschieben und unterdrücken, dass sie möglichst nie mehr ins Bewusstsein treten können sollen, obwohl sie gerade durch den Verdrängungs- und Spaltungsmechanismus fest im Unbewussten gespeichert bleiben. Lacan hat diese Art des Gedächtnisses, das nichts erinnert mit Hilfe der Linguistik zu beschreiben versucht. Der oben genannte Begriff des Signifikanten spielt hier eine große Rolle. Er ist so etwas wie ein „Bedeutungsmacher", realer „Bewahrheiter" wie ich es ja hinsichtlich der „sexuellen Wahrheit" in der Geschlechterbeziehung schon ausgedrückt habe. So könnte man die Fortpflanzung beim Menschen eine biologische Wahrheit nennen, wenn man bedenkt, dass ein Paar sich hier ja auch vorausschauend, planend betätigt, die erotische, sexuelle Wahrheit ist aber vielleicht gar nicht wirklich zu sagen, so komplex scheint sie zu sein.


Und so haben wir auch einen Übergang zu einem weiteren Irrtum Kandels. Das Wort Wahrheit kommt in seinem Buch nämlich nicht vor. Kandel hält es mehr mit dem Wissen, und das ist gut so. Kreativität liegt nach Kandel darin, dass das menschliche Gehirn zu mehr und mehr Wissen über die Welt verleitet und so den Menschen mit einer Kreisbewegung von Biologie, Gehirn und Kunst krönt. Dabei verlaufen die meisten dieser Vorgänge - genau wie Freud es gesagt hätte - unbewusst. Doch was ist dann die Psychoanalyse? Hier wird doch das Unbewusste bewusst gemacht und zwar dadurch, dass der Proband erzählen muss, was immer ihm gerade einfällt. Das Unbewusste „lügt nicht" zitiert Kandel, aber wie sagt es dann die Wahrheit? Indem der Analytiker aus den freien Assoziationen mithilfe seine „gleichschwebenden Aufmerksamkeit" Deutungen bastelt, Signifikanten enthüllt und so die Wahrheit über die menschlichen Beziehungen herauskommt. Nicht das Wissen, sondern die Wahrheit, weil sie es ist, die die Symptome erzeugt hat. Das Wissen muss der Wahrheit diesen und nicht umgekehrt. Bei Kandel dient das Wissen immer neuem Mehr-Wissen, was Lacan den typischen Universitäts-Diskurs nennt. Hier nimmt das Wissen eine Macht an und hat nichts mit Liebe zu tun, die enthüllend wirkt.


Auch die Kommentatorin E. von Thadden kritisiert im ZEIT-Magazin (Nr. 41, 2012) an Kandels neuem Buch, dass zwischen seinen hervorragenden Darstellungen neurowissenschaftlicher Zusammenhänge einerseits und der Psychoanalyse sowie der Kunst andererseits eine Kluft bleibt. „Wo ein spezifisches Ich sein müsste, findet sich bei Kandel nichts außer dem generellen Menschen an sich", schreibt von Thadden. Dieser Mensch ist bei Kandel zwischen dem „Bottom Up" von Neurotransmitter- und anderen biologischen Basalgehirn-Informationen und dem „Top Down" höherer neurologischer Vernetzungs-Konzepte eingespannt. Nur so etwas wie die Neuroästhetik der Kunst vermag eine Vermittlung herzustellen, aber auch der Künstler ist ein neurobiologischer Mensch. Die freien Einfälle des Patienten in der Psychoanalyse weisen jedoch ein ganz anderes „Bottom Up" auf, das mehr linguistischer und symbol-semantischer Art ist. Der Analytiker muss zwar den in diesem freien Sprechen versteckten Anspruch auf das zurückführen, was Freud den Trieb nennt. Doch der Trieb ist bei Freud nicht eine vorwiegend biologische Größe, sondern eher eine real-mathematische. „Die Triebe sind mythische Wesen", schreibt Freud, „großartig in ihrer Unbestimmtheit". Diese Aussage erinnert an Gödels Unvollständigkeitstheorem und an die Unbestimmtheitssätze des Physikers Heisenberg oder des Semantikers G. Gamm. Letzterer ist der Ansicht, dass man sowieso nichts mit Bestimmtheit sagen kann, egal, ob man es jetzt als Dichter oder als Wissenschaftler tut, ob man von Sex redet oder von sonst etwas. Für jedes also noch so philosophische Sprechen gilt das Gleiche, was Heisenberg schon vor langer Zeit für die Physik formuliert hat: eine Unschärferelation, eine Unbestimmtheit.


Die schreckliche Tatsache, dass wir mit einer derartigen Unbestimmtheit leben müssen, gleicht Freud eben dadurch aus, dass er die Subjekte aus ihrem Innersten heraus reden lässt und darauf achtet, ob man all das Geäußerte in irgendeine Ordnung bringen kann. Diese Ordnung bezieht er letztlich aus der Mathematik, indem er versuchte, die Triebe auf ein Minimum zu begrenzen, nämlich auf zwei (Eros-Lebens- und Todestriebe). Lacan hat dieses Konzept etwas umformuliert und den Schautrieb und Sprechtrieb als die grundlegenden zwei Kräfte nominiert. Die Einheit hinter diesen Kräften bleibt unbestimmt, weil es in der Psychoanalyse dem menschlichen Subjekt selbst überlassen bleibt, dafür einen Namen, eine Antwort aus dem Unbewussten zu finden. Die Vorstellung eines einzigen allmächtigen Gottes konnte daher keine Gültigkeit mehr haben. Gott ist eine hinter oder auch über diesen Kräften stehende virtuelle Einheit und repräsentiert somit auch die Eins als solche: mathematisch-real. Um diese Einheit, Eins-heit, ringt auch Kandel durchaus verständlich und legitim. Aber die Neuroästhetik, die er dafür findet, ist eben keine. Sie bleibt zwischen Neurowissenschaft und Kunst gespalten. Wie sollen sich Künstler und Neurowissenschaftler sozusagen am grünen Tisch einigen? Kandel müsste dem „spezifischen Subjekt" (von Thadden) mehr Fähigkeiten einräumen, wie es die Psychoanalyse tut.


Ich vermute, dass Kandel hier auch ein persönliches Problem hat. Als er nach Amerika auswandern musste und dort Medizin studierte, hatte er beste Kontakte zu Psychoanalytikern. Kandel war fest entschlossen ebenfalls Psychoanalytiker zu werden. Einer der bekanntesten Analytiker war Ernst Kris, mit dessen Tochter Anna Kandel eine Beziehung einging. Kandel lernte auch H. Hartmann und R. Loewenstein kennen, alle emigrierte und renommierte Analy-tiker. Dennoch kam es später zu einer Wende. Kandel wandte sich von der hoch interessante Psychoanalyse ab und der biologischen Gehirnwissenschaft zu. Gleichzeitig brach er die Beziehung zu Anna Kris ab. Ich glaube, dass Kandel das Wagnis, sich selbst analysieren lassen zu müssen und dabei sein Innerstes preiszugeben, ihn doch lieber in die sicheren konservativen Spuren der Naturwissenschaften zurückkehren ließ. Aber der Wert, die faszinierende Bedeutung und der Wahrheitsbezug der Psychoanalyse verfolgten ihn sein ganzes Leben. Auch in seinem ersten Buch „Auf der Suche nach dem Gedächtnis" kommt er immer wieder auf die Psychoanalyse zu sprechen. Es ist typisch, dass er glaubt sie zu kennen und davon zu wissen, so dass er in dem hier erwähnten zweiten Buch den Eindruck machen konnte, er würde Freuds Wissenschaft abrunden und vollenden können. Dies merkt auch E. von Thadden in ihrer Rezension an. Dabei ist jedoch klar, dass Kandel die Psychoanalyse gar nicht verstanden hatte und sie ja auch gar nicht verstehen durfte, weil er das Tiefste in ihm selbst nicht erfahren wollte. Schade, er wäre sicher ein guter Analytiker geworden und hätte vielleicht eine neue Wissenschaft kreiert.