Inter - Rede und Sichtung II

Sein ist Sichtung, denn nichts ist nur krasses und festgeschmiedetes Sein. Selbst in der Physik erscheint das Sein nur statisch und als Ausdruck unveränderlicher Atome wie eine für alle Ewigkeit geformte Materie. Doch nähere Sichtung der Dinge macht sie vielschichtig und nicht so einfach definierbar. Bei chemischer Sichtung ist Wasser ein Molekül namens H2O, aber dies wir niemand so sehen, der gerade im türkisblauen Meer an einem einsamen Strand badet. Eher bekommt man vielleicht ein Gefühl für die Chemie, wenn man langsam ein paar Wassertropfen aus der hohlen Hand fließen lässt und dabei bemerkt, dass es ja nicht nur vom H2O herkommt, wie die Tropfen herunter perlen. Die

Perlstruktur hängt mit dem Dipolmoment zusammen, der beim Wasser für die relativ hohe Oberflächenspannung verantwortlich ist. Irgendwie wird das Wasser dadurch lebendiger, weil es eine klare Außenhaut hat, auch wenn diese schnell zerreißen kann. So ein kleiner Wassertropfen erscheint eine Miniaturzelle zu sein, ein ganz minimales Ur-Individuum, das für einen kurzen Moment seine eigene Gestalt hat. Derartige Erkenntnisse haben viele etwas übersensibel veranlagte Menschen dazu verführt, von den tausend Formen des Wasserlebens zu sprechen und dabei herauszuheben, dass es lebendigeres und weniger lebendiges Wasser gibt. Aber das muss man für übertrieben halten.

Es genügt doch, dass wir diesen Ansatz von Leben spüren und einen Schluck kühlen Wassers bei großer Hitze wie die wohltuende Zuwendung eines vertrauten, erweckenden, zärtlich berührenden Elements empfinden. Diese empathische Sichtung des Wassers führt uns einem Sein näher als die reine chemische Formel, obwohl diese auch dazugehört. Am besten bringt und die Sichtung des Wassers durch die Rede vom Tropfen zustande, vom behutsam herunter perlenden Nass oder vom Regen, der an die Fensterscheiben klopft, dum, dim, dum-dum, dim . . . . Rede und Sichtung sind sich so nah, mal ist das Sein auf der einem, mal auf der anderen Seite, am wenigsten ist es materiell. Es ist auch nicht geistig wie sogenannt ‚spirituelle‘ Menschen oft glauben. Vielmehr ist das Sein empathisch, inter-individuell, Bild-Rede oder – ganz modern psycholinguistisch ausgedrückt – eine Kette von Signifikanten, einer Kette von symbolischer (Wort) und imaginärer (Bild) Ordnung.[1] Viel helfen diese Bemerkungen nicht, denn wie soll etwas so Geschriebenes volle Empathie vermitteln?

Doch, in der Psychoanalyse Freuds und in der Bibel ist dies andeutungsweise gelungen, denn in letzterer wird viel hinsichtlich der Bildrede geschrieben, und für etliche Menschen hat es so zwei Jahrtausende empathische Vermittlung gegeben. Dennoch war diese Art von Rede und Sichtung weit vom eigentlichen Sein entfernt. Sie war eben zu sehr ‚spirituell‘ gemünzt und nicht bodenständig, lebendig, ‚inter-verstehend‘ genug. Die amerikanische Autorin Judy Grahn verwendet diesen – man könnte fast sagen: psychoanalytischen – Ausdruck hinsichtlich des allgemeinen und begrifflichen Verstehens mit folgender Bemerkung: „Verstehen zu wollen, zur Basis, zur Wurzel oder zur versteckten Bedeutung vordringen zu wollen, ist das falsche Werkzeug. . . . Vielleicht ist es vielmehr ‚interstehen‘, was wir tun, wenn wir uns auf diese Arbeit einlassen und uns in aktiver Beschäftigung mit ihr vermischen. Statt Bedeutung herauszuziehen, legen wir Bedeutung hinein.“[2] Genau das  Wort interstehen trifft  auch auf die Psychoanalyse Lacans zu, der häufig betonte, dass ein zu gutes und zu vorschnelles Verstehen in der Psychoanalyse meist der falsche Weg ist. Der Patient assoziiert etwas, und der Therapeut versteht dabei den Zusammenhang zu vorschnell oder zu gut, was dem wirklichen Hintergrund der Deutung nur hinderlich ist. Arzt und Patient müssen sich interstehen, also nicht nur von einer geregelten Position aus ver-stehen, sondern miteinander interstehen.

Sowohl Freud wie auch Lacan haben auf die besondere Resonanz in Kommunikationsnetzen hingewiesen, sei es in mehr fast telepathischer Form, sei es als Ausdruck gleicher Symptome, verbindlicher Empathie und gleicher Überschneidungen in den Signifikanten. Die Hauptbedeutung liegt auf den inter, auf dem Zwischenbereich in allen Kategorien des Bild- und Wortbezogenen, der Sichtung und Rede, die sich legieren und immer wieder neu und anders, meistens jedoch unbewusst interagieren. Die Menschen machen zwar selber die Geschichte, sagte schon Marx, aber sie machen sie unbewusst. Sie konkretisieren sich und die Dinge fehlerhaft und unbewusst, anstatt dass sie inter sind, interstehend inter-schreibend und intersprechend. Selbst in Psychoanalysen geben die Menschen oft ihre Angst nicht her, sondern halten sie im Unbewussten versteckt. Sie agieren nur‚ sie interagieren nicht. Und die Interaktion mit Gott, wie sie die Bibel vermitteln will, ist eben auch nicht genug interstehend.

Genau in diesem Sinne schreibt Byung-Chul Han über die heutige Situation der Mneschheit: „Die Atomisierung des Lebens geht mit einer atomistischen Identität einher. Man hat nur sich selbst, das kleine ich. Man nimmt gleichsam radikal ab an Raum und Zeit, ja an Welt, an Mitsein. Die Weltarmut ist eine dyschronische Erscheinung. Sie lässt den Menschen auf seinen kleinen Körper zusammenschrumpfen, den er mit allen Mitteln gesund zu erhalten sucht. Sonst hat man ja gar nichts. Die Gesundheit seines fragilen Körpers ersetzt Welt und Gott. Nichts überdauert den Tod. So fällt es einem heute besonders schwer zu sterben.“[3] Man altert also, ohne reif und ohne fertig zu werden. Vom Sein sowohl anfangs wie am Ende keine Spur. Rede und Sichtung auf Halbmast, könnte ich ergänzen.



[1] Der Begriff der Signifikanten stammt aus der Sprachwissenschaft und meint die ‚Bezeichner‘ im Gegensatz zum ‚Bezeichneten‘ (Signifikat). Hier jedoch sind die in der Psychoanalyse Lacans gemeinten ‚Bedeutungskörper‘ gemeint, die Ketten bilden, die nicht nur sprachlichen, sondern auch realen Bezug (im Sinne unbewusster psychischer Realität) haben.

[2] Grahn, J., Really Reading Gertrude Stein (1989)

[3] Byung-Chul Han, Der Duft der Zeit, transcrpt (2015) S. 7