lapis philosophorum

Steine - lapis philosophorum

Unsere Taten fallen  wie widerhallender Steinschlag in uns selbst zu Boden, das ist so in etwa der Sinn von T. Transtömers Gedicht ‚Die Steine‘. Tranströmer erhielt 2011 den Literatur-Nobelpreis, was schon heute vielen Menschen nicht mehr bekannt ist.


„Die Steine, die wir geworfen, höre ich
fallen, glasklar durch die Jahre. Im Tal
fliegen die verworrenen Handlungen
des Augenblicks schreiend von
Wipfel zu Wipfel, verstummen
in Luft, dünner als die Jahre des Jetzt, gleiten
wie Schwalben von Gipfel
zu Gipfel, bis sie
die äußersten Plateaus erreicht haben
längs der Grenze des Seins. Dort fallen
all unsre Taten
glasklar
auf keinen andern Boden
als uns selbst.“


Der Widerhall scheint mir von den Grenzen des Seins zurückzukommen, das wohl auch steinhart ist, wenn auch nicht seelenlos, ja vielleicht sogar lebendiger als alles andere. Denn das Tote des Steins steht nur im Gegensatz zum Lebendigen der menschlichen Geist-Seele, sie sind kein Widerspruch. So ist zwar für Hegel der Stein nur ein ‚bloßes Ding‘, ‚nichts Wahres an sich‘, aber Byung-Chul Han meint, dass „der Stein als Ding eine Gegenfigur zur Transparenz ist,“ er ist eben nicht durchsichtig und spiegelt so die ursprüngliche, irdisch-ländliche Ordnung wieder, wo man Stein auf Stein gelegt hat, um ein Stück Acker mit einer kleinen Mauer abzugrenzen oder wo man ihn auf Grund seiner Farbe, Form und Zusammensetzung in den Hand gewiegt hat wie etwas Heiliges. Der Stein „gehört zur Erde, zur terranen Ordnung und steht für das Verborgene und Verschlossene. Heute verlieren die Dinge immer mehr an Bedeutung. Sie unterwerfen sich den Informationen.“[1] Denn während diese uns nur ‚In-Form‘ bringen, und zwar in die von den Informanten gewünschte Form, würde der Widerhall der Steine uns zur Besinnung, zur Erkenntnis rufen, glasklar.

Die ständige Transparenz der heutigen Informationsgesellschaft führt daher zum ‚Informations-Müdigkeits-Syndrom‘: „Information Overload, or ‚Information Fatigue Syndrome (IFS),‘ occurs when we over-expose ourselves to media, technology and information. Our brains have trouble keeping up with everything that we are feeding them. . . we end up having headaches and being exhausted and end up making mistakes and wrong decisions. The main point is, when exposed to too much information and technology, we tend to shut down.”[2] Zuviel Information macht zwar alles transparenter, aber diese Transparenz führt nicht zu mehr Verständnis und Klarheit. Im Gegenteil, der französische Psychoanalytiker J. Lacan meint, dass selbst unser Ich schon an derartiger Transparenz leidet, denn es ist nur ein ‚imaginäres Objekt‘, ein Spiegel-Objekt, etwas, das aus lauter hintereinander geschalteten Diapositivs besteht, durch die man hindurchschauen kann, aber keinen wirklichen Gehalt, keine Stabilität erreicht. Die Geist-Seele ist im Wesentlichen unbewusst.

Nun ist die ‚terrane Ordnung‘ wie sie Byung-Chul Han beschwört auch nicht mehr unbedingt unser Ding. Die bäuerliche Kultur ist notwendig, aber nicht mehr die Hauptsache unserer Zeit, zumindest nicht in unseren industriellen Ländern. Es ist schön einen Stein in der Hand zu wiegen, besonders wenn er die von mir gerade zitierten mineralischen Einschlüsse aufweist, aber man kann ihn auch werfen wie Transtömer in seinem Gedicht ja eingangs schreibt. Er hört sie auch jetzt noch fallen, denn sie sind der Widerhall seiner Handlungen – und vielleicht auch seiner Gedanken? Aber schlimmer noch: ständig werden immer wieder Kriege geführt und nicht nur Steine, sondern auch Bomben geworfen. Weder die frühere noch die heutige Kultur kann uns davon befreien, in ständiger und extremer Gefahr und Gewalt zu leben. Deswegen schreibe ich diese Zeilen. Denn so wie wir nicht mehr ganz in der terranen Kultur stecken, so müssen wir auch die Informations- und Müdigkeitskultur hinter uns lassen.

Weder das Erdhafte, das Ursprüngliche, wo die ‚Schwalben noch von Gipfel zu Gipfel fleiegen‘ ist allein das Unsrige, und auch die Informationsgesellschaft mit ihrem Müdigkeits-Syndrom und ihrer überbordenden Digitalisierung ist nicht besser. Wir brauchen eine neue Geist-Seele-Kultur, ich nenne sie die Kultur von ENS CIS NOM oder ARE VID EOR, wenn ich das erst einmal so rätselhaft sagen darf. Denn diese formelartigen Worte sind kein Name und kein Begriff mehr wie Stein, Ding, Leben, Transparenz, Müdigkeit oder Gott. Dennoch steckt Bedeutung und Sinn in ihnen. Sie sind auf Grund psychoanalytischer Auffassung über das sogenannte Unbewusste aus sich überlappenden und überschneidenden Worten der lateinischen Sprache aufgebaut. Dadurch sind sie transparent, in ihrer Struktur gedanklich nachvollziehbar gestaltet und doch auch  – so wie die Gedanken im Traum – etwas entstellt, verziffert und verrätselt geerdet. In der Psychoanalyse nutzt man die entstellten Sprüche und Gedanken dazu, sie in die dahinter stehenden Bedeutungen zu zerlegen, sie also zu entziffern und zu deuten, da sie somit der Wahrheit des betreffenden Subjekts und seines terranen Begehrens dienen können. Man muss also über sich selbst Bescheid wissen wollen, über die eigenen ‚Steine‘, egal ob sie jetzt terran oder überirdisch sind, sonst hat es keinen Sinn sie fallen zu hören noch die Träume zu entschlüsseln.

Mit den genannten Formel-Worten kann der Vorgang der Wahrheitsfindung an den ‚Grenzen des Seins‘ noch vereinfacht werden. Schließlich stellt ja bereits das Gedicht, aber auch alle Lyrik, eine derartige Wort- bzw. Gedankenüberlappung dar, die das Begreifen des Inhalts verdichten und  verstärken.  Die Steine fallen ins Tal, wo verworrene Handlungen auffliegen, Verdünnung setzt ein, die Grenzen des Seins werden erreicht und schließlich wird der Boden des Unbewussten getroffen. Noch extremer kann man solche Wort- bzw. Bedeutungsüberschneidungen bei J. Joyce in seinem letzten Werk ‚Finnagans Wake‘ heraushören, aber auch Ezra Pound  hat sich ähnlich lyrisch ausgedrückt. Hier werden die Sätze  manchmal zu B(r)uchstaben-Sätzen, also in sich gebrochenen Ausdrücken. [3]

But for Kuan Chung we should still dress as barabarians.

. . . . Flußgold stammt aus Ko Lu;

        Preis von XREIA her;

Yao und Schun herrschen mit Jade

Dass sich die Göttin in ihr kristallisierte

Dies der Ritus des Korns

         Luigi auf dem Bergpfad

         Dies der Ritus des Korns.“[4]

Auch in ENS – CIS – NOM überlappen sich also die Bedeutungen, was man am besten in der Kreisschreibung erkennen kann. Aber lesen wir einmal. Gehen wir einmal vom M oben links aus. So heißt MENS CIS  NO, der Gedanke diesseits, innerhalb von No, vom N ausgehend: NOMEN SCIS, du kennst den Namen, OMEN SCIS N, du kennst das Omen N,   CIS  NO,  MENS,  diesseits schwimme ich, oh Geist, ENS CIS NOM, das Ding diesseits von Nom, C IS NOMEN S, hundert dieser Name S, usw. So unsinnig einzelne der Bedeutungen auch sind, sie sind doch grammatikalisch und syntaktisch normal und sogar auch semantisch in Ordnung. Der Sinn dieser Formulierung besteht ja gerade darin, dass sie keinen vordergründigen Sinn schon parat hat, sondern überdeterminiert und durch Überlappungen verdichtet ist und so nur das Unbewusste anregt, ja provoziert, torpediert, einen Sinn heraus zu geben.

In ihrem Buch „Gehirn und Gedicht“ versuchen ein Dichter und ein Neuropsychologe das Problem des Zusammenhangs von Denken, Sprechen, Psyche und Gehirn in ähnlich vielgeschichteter Weise zu lösen.[5] Sie stellen fest, dass es letztlich neurophysiologisch und –psychologisch angelegte Strukturschemata und -Konzepte gibt, die mit „Klangpartikeln“ und „Lautfiguren“ so sehr in eins gehen, so übereinstimmend sind, dass sich die Wirkung von Grammatik, Syntax und sogar Reimen und Dichtung damit erklären lässt. Stabreime und Schüttelverse, vokalische Assonanzen und ein „artikulatorischer Regelkreis“ wirken sich in der Plastizität des Gehirns förderlich aus. Das sehr umfassend und profund geschriebene Werk kann ich hier nur andeutungsweise wiedergeben. Dennoch ist klar, dass es den Autoren genau um diese Problematik geht, wie wir uns den fast mathematisch zu bestimmenden Zusammenhang von Wortklangfiguren mit dem Inneren des Menschlichen Wesens vorzustellen haben. Freilich zeigen die Autoren keinen therapeutischen Weg, wie man diese Erkenntnisse in der psychotherapeutischen Praxis umsetzen könnte.

Darum aber geht es mir. Wir brauchen eine ‚logische Praxis‘ wie sie von der Psychoanalyse begründet wurde, wie sie dort aber nicht mehr so dicht, so wissenschaftlich und  b(r)uchstabenartig wie es nötig wäre. W. Singer und M. Ricard, ein Neurowissenschaftler und ein buddhistischer Mönch (der allerdings auch zuerst eine westliche wissenschaftliche Laufbahn ergriffen hatte, bevor er buddhistischer Mönch wurde), gehen das Problem der Geist-Seele-Kultur äußerst vielschichtig, intellektuell und wissenschaftsbezogen an.[6] Ihr Dialog ist so geistreich und interessant, dass man manches zweimal lesen muss, weil es gut ausgedrückt ist, aber auch, um es gut zu verstehen. Dabei bestärken sie sich auch stets gegenseitig in ihren Ansichten, bekräftigen, wie sie dies oder das von anderen akzeptieren und verstehen können, bleiben aber letztendlich trotz ihrer fast 350 Seiten langen Gesprächsaufzeichnung im zentralen Anliegen des Geist-Seele-Problems gespalten. Sie trennen sich wieder als der jeweils von sich überzeugter Neurowissenschaftler und buddhistische Mönch. Wie ist so etwas möglich?

Ihre Standpunkte werden nach längerem Lesen immer klarer. Der Hirnforscher ist der Auffassung, dass alles, was irgendwie geistig-seelisch erfahren, erlebt, durchdacht und ausgedrückt wird in den Nervenzellvernetzungen des Gehirns präsent ist. Es kann durchaus sein, dass hochkulturelle seelisch-geistige Aspekte ein gewisses Eigenleben entfalten, aber letztlich bleiben sie neurologisch präsentiert und vermittelt. Dieser Auffassung stellt der buddhistische Mönch seine Version des Geist-Seele-Konzepts gegenüber, indem er konstatiert, dass es eine primäre Bewusstheit, ein sogenanntes ‚primäres Gewahrsein‘, ein ‚reines Bewusstsein‘ gibt, das in seinen groben, unterentwickelten Formen neurologisch abgebildet sein kann, in seinen höheren Formen jedoch in umgekehrter Weise nicht neurologisch präsentiert ist, sondern sogar auf das Gehirn und dessen bekannte ‚Plastizität‘ positiv zurückwirken kann. Im Grunde genommen ist dies eine religiöse Auffassung, in der eben nicht direkt von Gott gesprochen wird, aber eben doch von der primären und übergreifenden Existenz einer Art von Über-Selbst, von ‚primären‘ und erweiterten, bewussten ‚Gewahrsein‘. Da M. Ricard mit seinem Gesprächspartner W. Singer an vielen Experimenten zur Verhaltens- und Gehirnforschung teilgenommen hat und in westlicher Molekularbiologie ausgebildet ist, kommen tatsächlich verbindende Dialoge zusammen. Was ihnen fehlt ist der wissenschaftlich-therapeutische Einsatz. Nur über so etwas und über dafür geeignete und eigene Begriffe hätten sie umfassend reüssieren können.

Meine Methode der Analytischen Psychokatharsis versucht einen derartigen Weg zu gehen. Ich habe ihn in zahlreichen Artikeln und Büchern veröffentlicht. Ganz im Sinne von M. Ricard könnte ich sagen, dass es etwas Signifikantes gibt, das von Anfang an schon da war, ich nenne es psychoanalytischen Erkenntnisse folgend das ‚Es Strahlt‘ des Unbewussten. Lacan nennt es das ‚ultrasubjektive Ausstrahlen‘, abgeleitet aus der ursprünglichsten Form des Wahrnehmungstriebs, und so könnte man es auch ein ‚‘Es Sichtet‘, ‚Es Scheint‘, ‚Es Schaut‘ heißen. Es hat etwas mit der Freud’schen ‚Ur-Verdrängung‘ zu tun, weil dieses ‚Strahlt‘ meist überfordernd ist und so von der Psyche abgespalten und weggeschalten wird. Andere übliche Verdrängungen können dann daran anknüpfen. Was W. Singer jedoch betont, betrifft mehr das ‚universale Gemurmel‘ und die ‚ultrareduzierten Phrasen‘ im Unbewussten, ebenfalls Lacansche Begriffe. Man hört zwar die Neuronentätigkeiten nicht direkt, aber im EEG und im fMRT und in den vielen wissenschaftlichen Äußerungen ergeben sie tatsächlich ein Raunen und Murmeln szientistischer Art. Ich nenne sie auch das ‚Es Spricht‘ des Unbewussten, abgeleitet aus dem ursprünglichsten Entäußerungs- oder Sprechtrieb, was man auch ein ‚Es Verlautet‘, ‚Es Äußerst‘, ‚Es Artikuliert‘ heißen könnte. Dies hat ebenso mit der ‚Ur-Verdrängung‘ zu tun, denn die Ansprüche der Welt, der Eltern und frühen Bezugspersonen überfordern und überfluten einen am Lebensanfang (und manchmal noch später) genauso in nicht mehr erträglicher Form.

Nun muss man nur noch das ‚Strahlt‘ und ‚Spricht‘ in einer optimalen, gelungenen, wissenschaftlich knapp gehaltenen Form und Kombinatorik zusammenbringen, um etwas zu haben, das man meditieren könnte, dass man wie die Steine in sich nur umwälzen lassen muss, um ihre Weisheit erfahren zu können.



[1] Byung-Chul Han, Im Schwarm, Ansichten des Digitalen, Matthes&Seitz (2017) S. 73

[2] NaturalNews.com vom 3. Juli 2013

[3]Oudee Dünkelsbühler, U., Zeugnis und Schrift: B(r)uchstaben an der Couch, Les Etats Généraux de la Psychanalyse (2001)

 

[4] Pound, E.., Cantos, DTV

[5] Schrott, R., Jacobs, A., Gehirn und Gedicht, Hanser (2011)

[6] Singer, W., Ricard, M,, Jenseits des Selbst, Dialoge zwischen einem Hirnforscher und einem buddhistischen Mönch, Suhrkamp (2017)