Niemands Blick und der Klang des Nichts

Über das Verfahren der Analytischen Psychokatharsis habe ich in vielen Büchern und Vorträgen berichtet. Es handelt sich um eine selbsttherapeutische Methode, bei der man sich innerlich auf zwei Grundvorgänge konzentriert. Ich beschreibe jetzt hier nicht den psychoanalytischen Hintergrund, der dieser Methode zugrunde liegt, weil dies in den Büchern und auch auf dieser Webseite ausführlich dargestellt ist. Nur so viel in Kürze: S. Freud nannte diese Grundvorgänge ‚Triebe‘, die ‚konstante Kräfte‘ sind und somit einen ‚konservativen Charakter‘ haben. Der eine Trieb bezieht sich auf das Visuelle Feld (ein Schauen, ein Es Strahlt), der andere auf das Sprech-Hör-System (ein Es

Verlautet, Es Spricht). Was Letzteres angeht mag ein Artikel des Wissenschaftsredakteurs S. Schramm erhellen, den er mit der Überschrift „Der Klang des Nichts“ versah. [1] Er berichtete über Experimente eines Akustik-Technikers, in dessen absolut schalldichten und auch schallschluckenden Raum man schon nach kurzer Zeit alle möglichen Töne und Laute wahrnimmt oder zu hören vermeint.Mit anderen Worten: diese künstlich verstärkte extreme Stille fängt schon nach kurzer Zeit zu dröhnen an wie man oft sprichwörtlich sagt.

Genau damit offenbart sich das Sprech-Hör-System, das man im Alltag nicht wahrnimmt und das die Psychoanalytiker als den einen Teil des Unbewussten bezeichnen, eben das  vorhin erwähnte Es Verlautet, Es Spricht. Für den Psychoanalytiker haben diese Phänomene in erster Linie nichts mit neurologischen Vorgängen im Gehirn zu tun. Sie treten vielmehr in einem als unbewusst bezeichneten eigenen Bereich eines primären Genießens körpernaher aber seelisch strukturierter Prozesse auf. Doch egal wie man dies jetzt exakt benennen will, der „Klang des Nichts“ weist schon durch seine Worte auf die besondere Tiefe und Exklusivität dieses ‚Verlautens‘ hin. Hier klingt etwas oder jemand, hier Spricht Es, das Unbewusste oder das Subjekt selbst. Es geht dabei nicht um ein mystisches Geschehen, sondern um die Kraft des ‚Triebs‘, die zur Entäußerung drängt. Die Entäußerung kann durch Bewegungen vermittelt werden, aber beim Menschen steht die Art im Vordergrund, die das Sprechen darstellt, das Sich-Äußern durch Laute und Vokabeln, durch Rufe und ganze Sätze.

Doch vorher sind diese Sätze im Unbewussten schon vorgebildet worden wie das Experiment des Akustik-Technikers ja gezeigt hat. Natürlich Spricht das Unbewusste nicht perfekt und druckreif, sondern eher in Form „ultrareduzierter Phrasen“ oder gar nur in Form eines „universalen Gemurmels“ wie es der Psychoanalytiker J. Lacan beschrieben hat. Mir kommt es hier jedoch auf etwas anders an. Wenn man sich bewusst – wie in der Analytischen Psychokatharsis vorgesehen – nach innen konzentriert, kann man auch ohne schalldichten und schallschluckenden Raum dieses ‚Verlautet‘ oder Spricht erfahren, das meist zuerst mit einem Ton oder Klang beginnt bevor es eine Phrase, Silbe oder gar ein, zwei oder mehr Worte vernehmen lässt. Durch die Isolation auf das ‚Nichts‘ hat man dabei den Eindruck, der Ton oder das ‚Verlauten‘ kommt nicht nur von innen, sondern von einem universellen Raum her, in dem innen und außen gleich ist. Auch das ist nicht Mystik, ich erläutere es durch Stellungnahme zu dem oben erwähnten zweiten ‚Trieb‘, dem des Schauens bzw. des Es Strahlt des visuellen Systems.

Denn beide Systeme hängen zusammen wie es auch im Traum zu sehen ist, den S. Freud ja als die ‚via regia‘ zum Unbewussten tituliert hat. Im Traum tanzen Wortfetzen und Bildstücke durcheinander und demonstrieren dabei eine bestimmet Topologie (Einsteinsche oder Gummi-Geometrie). Im Traum gibt es nämlich keinen Horizont, also keinen perspektivischen Raum. Der Raum ist vielmehr eingerollt und gekrümmt, wobei an zu starken Krümmungen meist ein Szenenwechsel stattfindet. In gleicher Weise hängt auch das Strahlt mit dem Spricht zusammen. Neben dem ‚Klang des Nichts‘ existiert auch der ‚Blick von Niemand‘, unter dem alle Menschen  unbewusster weise stehen. Es gibt beim Menschen eine Oszillation von Blick und Angeblicktwerden, die schon Sartre erwähnte. Man wird das meist unbewusst bleibende Gefühl nicht los, dass einen in den Dingen etwas angeht, ‚anblickt‘, auch wenn es kein wirklicher Blick ist. Es geht um einen Subjekt- oder Licht-Punkt, den Lacan dem physiologischen Geometralpunkt gegenüberstellt. Dieser Licht-Subjekt-Punkt wurzelt in der letzten Tiefe einer Kombination des Strahlt / Spricht, der Schau- und Sprechlust, und er bleibt deswegen auch meist verborgen, verdrängt wie im Traum.

Es ist kein Wunder, dass  - wie schon I. Kant suggerierte – dass der Sternenhimmel sich besonders gut dazu eignet, dieses Gefühl von ‚Niemands Blick‘ zu haben, wo einen doch Millionen ‚Licht‘-Punkte anzuschauen und zu betreffen scheinen. Und so verhält es sich auch mit dem ‚Klang des Nichts‘, wenn dieser aus der Klangkulisse heraus  isoliert und als Musik  monadisch wird wie man sagt: auch er wird dann zur Stelle eines Genießens, von dem man nicht weiß, was es bedeutet und eigentlich ist. Man kann diesen absoluten bzw. monadischen ‚Klang‘ nicht fixieren, nicht festhalten, und so dient die Musik also nicht dem Erkennen der Wahrheit, sondern ihrem Vollzug und Genießen.[2] Diese zwei Punkte hinsichtlich des Sprech-Hör-Klang-Phänomens und des Schau-Blick-Feldes will ich besonders  betonen.

Wenn die Psychoanalytiker diesbezüglich vom Unbewussten sprechen, so weil die ‚Triebe‘ ein wunschhaftes Begehren in sich tragen, das aus dem Schauen, dem Strahlt eine Schaulust macht, die man gerne in sich versteckt. Es sollen nicht alle wissen, an was sich der Blick verlustiert. Genau so wenig will man, dass das Spricht versehentlich mit etwas herausplatzt, einem Versprecher z. B., der geheime Gedanken verrät. Doch in dem topologischen Raum, bei dem man innen und außen nicht mehr ganz unterscheiden kann, ist es möglich, sich mit den unbewusten Bildern und Blicken und den unbewussten Phrasen und Gedanken auseinander zu setzen. Man muss sie allerdings in einer wissenschaftlich fundierten Weise zusammen führen, denn eine blinde Verbindung, Vermischung oder wie Freud sagte: Legierung der beiden ‚Triebe‘ oder Grundvorgänge kann auch Chaos (Psychose), Pwerversion oder psychosomatische Krankheit bedeuten.Verbindet man sie jedoch in einer besonders gelungenen wissenschaftlichen Form, kann man die Sterne bewegen, was ich im Folgenden kurz begründen will.

Freud bezeichnete die ‚Triebe‘ einerseits als ‚mythische Wesen, großartig in ihrer Unbestimmtheit‘. Andererseits fasste er sie wieder mehr biologisch auf und nannte den einen ‚Trieb‘ den ‚Eros-Lebens-Trieb‘, den anderen den ‚Todestrieb‘. Er bestimmte sie also zu definitiv und auch problematisch, denn gerade die Einführung des Todestriebs gab seiner Psychoanalyse eine stark pessimistischen Einschlag. Deshalb – und weil ja eine gewisse Unbestimmtheit bestehen bleibt – konnte Lacan das Trieb-Struktur-Konzept Freuds etwas umformulieren. Er sprach wie ich es oben schon getan habe vom Wahrnehmungs-, Schautrieb (Schaulust, Strahlt) auf der einen und vom Entäußerungs-, Sprechtrieb (Spricht) auf der anderen Seite. Nun ist es noch schwieriger sich vorzustellen, wie diese beiden Triebe, Grundvorgänge, miteinander zu kombinieren wären, damit etwas Positives und Hilfreiches herauskommt. Eros- und Todestrieb kann man sich noch in Kombination vorstellen, in vielen Opern (Aida, Trovatore, Tristan und Isolde) und Dramen (Romeo und Julia) sterben gerade die besonders gegenseitig Verliebten. Triebdynamisch sprechen die Psychoanalytiker dann von etwas Sado-Masochistischem.

Wenn die Bereiche von Strahlt und durch eine Topologie intensiv verschränkt sind, so dass man also innen und außen nicht mehr unterscheiden kann, muss etwas eintreten, was einer naturwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Erklärung gleichermaßen entspricht. So etwas ist jedoch bis heute nicht bekannt geworden und nur Tummelplatz von Esoterikern, Mystikern und Parapsychologen geblieben. Deswegen schlage ich eine von der Psychoanalyse abgeleitete Erklärung vor, die bessere Grundlagen für ein Verständnis dieses Problems liefert. Die Psychoanalyse spricht von einer ‚sexuellen Energie‘, die sie Libido nennt. Der Begriff sexuell hat jedoch nur wenig mit der Sexualität Erwachsener zu tun, sie entstammt vielmehr der frühen Kindheit und wurde nur deswegen so bezeichnet, weil auch die Lust auf Süßigkeiten, auf Mund- und Gaumenkitzel, einen Charakter hat, der von einer Erregung ausgehend, ein Objekt umfassend schließlich in die Abreaktion einer Befriedigung mündet. Es ist dies, was ans Sexuelle erinnert und somit ‚Oraltrieb‘, oral gebundene Libido bedeutet.

Diese Libido kann aber laut Freud so verfeinert, sublimiert, ja sogar ‚desexualisiert‘ werden, wobei, wenn schon nicht mehr Lust, so doch ein ‚Genießen‘ übrig bleibt, das Lacan die „jouissance“ nennt, das Genießen des Körpers als solchem, das Genießen per se. Genau dies ereignet sich eben, wenn das Strahlt / Spricht in einer Kombination  zusammengebracht ist, die ich vorhin als positiv und gelungen bezeichnet habe, aber eigentlich eben die Erfahrung dieses zwar körperhaften, aber ansonsten objektlosen und rein subjektbezogenen Genießens darstellt. Es verhält sich hier also so, dass ‚Niemands Blick‘ und ‚der Klang des Nichts‘ in eine einheitliche Erfahrung münden, die man anders nicht beschreiben kann. Im Grunde ist schon jetzt das im letzten Abschnitt Geschriebene reiner Unsinn oder nur zusammen gebasteltes Gerede. Doch ich habe einen Ausweg gefunden in einem Produkt, in einem ‚linguistischen Kristall‘ wie Lacan es auch heißt. Kristall bedeutet ‚Niemands Blick‘, linguistisch ‚Klang des Nichts‘. Ich habe dies alles schon oben mit Kants Sternenhimmel und dem Genuss des absoluten Klangs in der Musik erwähnt.

In der nebenstehenden Abbildung kurz nochmals ein Beispiel für den „linguistischen Kristall“,dessen im Kreis geschriebene Buchstaben einer Formulierung aus der lateinischen Sprache mehrere Bedeutungen mehrere Bedeutungen enthalten, ja nachdem von welchem Buchstaben aus man zu lesen anfängt. Da die einzelnen Bedeutungen völlig disparat zueinander sind, kann man keinen Sinn daraus gewinnen.[3] Es ist vielleicht weniger der ‚Klang des Nichts‘ als eher die ‚Stimme von Niemand‘, und umgekehrt blicken einen die Zeichen an, ohne etwas zu verheißen: sie sind nur ein kleines Stückchen Ästhetik oder vielleicht nicht einmal das. Doch auf all dies kommt es ja nicht an. Gerade weil hier Nichts und Niemand das Feld beherrschen, kann jemand, der diese Formulierung meditiert, sie also gedanklich reverberiert, aus seinem eigenen Unbewussten eine Antwort bekommen. Eine Antwort auf die zentralen Fragen des menschlichen Seins, nämlich wer man ist, welche Identität man hat und wie die „jouissance“ über die herkömmlichen Lüste triumphiert.

Dazu muss ich noch einmal zum Klang zurückkehren. Da er an die tiefste Schnittstelle zwischen außen und innen, zwischen Makro- und Mikrokosmos, zwischen Geist und Materie heran kommt, lässt man sich stets und leicht dazu verführen, ein Jenseits oder etwas Kosmisches, eine psycho-physikalische Einheit damit aufzuspüren und für eigene Zwecke nutzbar machen zu können. Ich weiß nicht, ob das Sinn hat. Mir scheint es mehr Sinn zu machen, in dieser gerade erwähnten Antwort aus dem Unbewussten einen Namen  herauszufiltern, der für einen selbst am besten passt und für die eigene Identität zuständig ist. Es mag ja Gott sein oder der Stein der Weisen, die Urmatrix oder der Schlüssel zur eigenen Epigenetik: es ist doch egal wie man es nennt. Man sollte den Mut haben, ihm einen eigenen Namen zu geben, den niemand vorher gefunden hat. Ich kenne jemanden, der sagt, er sei Gott, aber er ist nicht psychotisch, er äußert dies nicht wie einer, der besessen ist von dem Gedanken Napoleon oder Jesus zu sein.

Er will nur von all den Konfessionen, an die sich die Menschen klammern, nichts wissen. Er will wie Freud es mit der via regia gesagt hat, seine eigene via regia zum innersten und gleichzeitig äußersten Kern benennen, und so nennt er sich eben Gott. Er weiß genau, dass er damit einen schweren Posten übernimmt, eine schier unlösbare Aufgabe, denn er muss finden, wie er damit, dass er Gott ist, umgehen kann. Vor kurzem sagte er auch zu einem katholischen Diakon, dass er Gott sei und auch der Diakon sollte es für sich selbst so sehen können. Doch der war leider zu humorlos und nicht pfiffig genug, mit ihm in einer Konversation einzutreten. Wir sind alle Gott, ich stimme meinem bekannten zu. Man muss nur eines tun: wenn die Antwort auf die Übung mit der im Kreis geschriebenen Formulierung eine Bedeutung hat, sollte man sie nochmals rational, vernunftgemäß im Sinne der Freudschen Spekulationen prüfen, was sie wirklich bedeutet. Erst dann gilt sie.

In meinen eigenen Übungen hatte ich einmal –  quasi als Antwort – die ultrareduzierte Phrase in mir aufgefangen: „Sollst der Adam sein“. Ich hätte mir sofort denken können, dass ich irgendwie auserwählt bin erneut Gottes erster Gesandter zu sein, denn solch ein innerlich wie von ferne her gehörter Gedanke kommt einem leicht wie eine göttliche Stimme vor. Jedem Außenstehenden wird dies nicht einleuchten, aber mir war nach kurzem rationalem Reflektieren schnell klar, was gemeint war. Als Arzt und Psychoanalytiker habe ich keine Karriere gemacht. Weder in den Natur-  noch in den Geisteswissenschaften (wenn ich die Psychoanalyse jetzt einmal dazu rechnen darf) konnte ich irgendwie reüssieren. Aber anscheinend war doch der Ehrgeiz bei mir da, jemand zu werden, der in der Wissenschaftsdiskussion der Zeit mitreden oder nicht nur als Hinterbänkler wirken sollte. Da war mir die Sache mit dem Adam gerade recht. Hat doch Lacan alle die „universitären Diskurse“ als überholt und, weil an der eigentlichen Wahrheit vorbei gehend, als nur rein wissenssüchtig demaskiert. Aber ein Adam zu sein, hieß ja wieder dort anzufangen, wo die Menschheit mit der Religion und der Mystik, mit dem Streben nach Wissen und Weisheit begonnen hat. Es hieß, wieder der erste Mensch zu sein und die gute Wiederholung zu wagen. Wir müssen die ganze Menschwerdungsgeschichte per Hand wieder aufrollen und genau mit dieser Hand wieder neu schreiben, und zwar sowohl als Paläoanthropologe wie auch als Kundiger des Alten Testaments.

Genau dahinter steckt ja auch die Geschichte mit dem Lacanschen „Ding“. Die ersten Menschen, die Frühmenschen, die ich mit ihren Naturreligionen erwähnt habe, haben sich noch nicht so stark an die Objekte verloren. Sie lebten noch von Grund-auf-zu-Grund-auf, von Ding-zu-Ding. Sie atmeten noch die Natur um und in sich, während wir heute keine Ahnung mehr davon haben, dass wir – wie Lacan meint – der sind als der wir atmen, indem wir mit dem Atem der uns umgebenden Fauna und Flora eins sind. Hinter dem Adam-Sein steckte also auch durchaus eine elementare Intention, doch hätte ich diese niemals so ausgedrückt. Ich hätte vielleicht gesagt und habe es auch so schon manchmal so gedacht, dass man wie die ersten Menschen vor zehn- oder zwanzigtausend Jahren nochmals von vorne anfangen können müsste. Nicht umsonst habe ich mich viel mit dem Neandertaler beschäftigt. Er war bereits im vollen Sinne Mensch, da er  die Sprache in ausreichendem Maße besaß und damit auch ein Unbewusstes hatte.

Zudem war er unglaublich robust und naturverbunden und hatte noch ein größeres Gehirn als wir. Er hat es nur so umständlich und zeitraubend benutzt und sehr viel Gehirnmasse im Temporo-Ocipitalbereich gebraucht (Sensomotorik) wie im Kapitel 3. 3 gezeigt. Aber es wäre für mich nicht so intensiv, so enthüllend gewesen, im Rahmen dieser Gedanken und Forschungen die Intention zu haben, wieder wie ein Frühmensch zu sein (eine phylogenetische Regression einzugehen) und von dort aus die Menschheitsgeschichte neu zu formulieren. Adam zu sein war demgegenüber ein viel knalligerer, intensiverer Gedanke, ja ein originärer echter Name, eine viel plastischere Identität. Adam sein war ein Pass-Wort, und Adam war der urreligiöse Mensch und zudem ein Neandertaler, was sonst! Ein Pass-Wort wie:  „Du sollst ein Frühmensch sein“ hätte mich erschreckt, aber der Adam passte für beides, für eine frühe und eine moderne Identität.

Denn Adam ist natürlich auch der erste Kulturmensch, er ist Element orientalisch-europäischer Identität, die immer frisch bleibt, weil sie je nach religiösem, kulturellem oder sozialem Kontext umgewandelt und umgedeutet wird.[4] Auch dieser Adam zu sein ist reizvoll und wichtig, denn die Frühmenschen allein geben uns zu wenig Halt und Klarheit. Adam ist die Möglichkeit diese beiden Menschseins-versionen zu einen, und auf genau dies zielt ja mein Buch. Die Formel-Worte spiegeln ideal das Stottern und Grummeln der Neandertaler wieder sowie die Pass-Worte gut an das „Ehyeh-Asher-Ehyeh“ (Ich bin, der ich bin) in der Mosesgeschichte erinnern. Im Gegensatz zur herkömmlichen Psychoanalyse, in der die Deutung (die ja auch auf eine Identitätsgewinnung hinausläuft) aus stark von vorbewussten Assoziationen her mit bestimmt ist, sind die Pass-Worte der Analytischen Psychokatharsis viel authentischer, elementarer, unbewusster, und das heißt eben auch ursprünglicher. Sie sind Adams-Worte.

Man muss sie dafür manchmal noch zurecht feilen oder wie einen Traumsatz interpretieren. Aber während der Satz aus einem Traum so fern ist, so gerade noch blass erinnerlich, ist das Pass-Wort sofort als etwas Ureigenes kenntlich, spürbar, hörbar. Wie die Offenbarungsworte der frühen Mystiker sind die Pass-Worte unabweisbar und zutiefst enthüllend. Die frühen religiösen Offenbarungsworte waren eingepackt in schon bekannte historische Gegebenheiten, auch sie waren also durch Vorbewusstes mitbestimmt. Dies ist bei den Pass-Worten der Analytischen Psychokatharsis in viel geringerem Maße der Fall. Wie die Formel-Worte sind sie Adams-Worte, die der originäre Adam genau so wie der Frühmensch hätte aussprechen sollen, anstatt den Lapsus mit dem fehlgegangenen Sexualakt zu machen.

Adam sein hieß freilich auch, wieder neu in den modernen Wissenschaften die Menschheitsentstehung als Subjekt zwischen den Signifikanten zu reflektieren. Man muss in Analyse oder wenigstens in Selbstanalyse gehen, um die persönlichsten Interpretationen des eigenen Seelenlebens zu erhalten.

 

(wird fortgesetzt)



[1] Schramm, S., Der Klang des Nichts, SZ vom 7. 11. 2016, S. R7

[2] Leikert, S., Die  vergessene  Kunst, Psychoanalyse  der  Musik, Psychosozial Verlag (2005) S. 25 - 44

[3] in ENS – CIS – NOM überlappen sich die Bedeutungen entsprechend den B(r)uch-staben, was besonders bei einer Kreisschreibung sichtbar wird. Gehen wir einmal vom M oben links aus. So heißt MENS CIS NO, der Gedanke diesseits, innerhalb von No, vom N ausgehend: NOMEN SCIS, du kennst den Namen, OMEN SCIS N, du kennst das Omen N,   CIS  NO,  MENS,  diesseits schwimme ich, oh Geist, ENS CIS NOM, das Ding diesseits von Nom, C IS NOMEN S, hundert dieser Name S, usw. So unsinnig einzelne der Bedeutungen auch sind, sie sind doch grammatikalisch und syntaktisch normal und sogar auch semantisch in Ordnung. Der Sinn dieser Formulierung besteht ja gerade darin, dass sie keinen vordergründigen Sinn schon parat hat, sondern überdeterminiert ist und nur das Unbewusste anregt, ja provoziert, torpediert, einen Sinn heraus zu geben.

 [4] Flasch, K., Adam und Eva, Wandlungen eines Mythos, Beck (2005) S. 96