Sar Bachan, Yoga und Analytische Psychokatharsis

Dies ist ein Auszug aus meinem Buch "inter-hot", in dem es um das Schciksalslogo geht, das jeder in sich trägt (Freud nannte es Triebschicksal). Es geht jedoch auch um die Analytische Psychokatharsis und deren Formel- und Pass-Worte (siehe entsprechende Artikel). Sar Bachan ist nun nicht schon wieder neues ein Pass-Wort, das jemand in seinem Inneren aufgeschnappt hat so wie mein „inter-hot“. Sar Bachan führt vielmehr in eine von der unsrigen extrem unterschiedliche Welt. Aber vielleicht passt dieses Schicksalslogo gerade wegen seiner Andersheit in dieses Buch, in dem ich ja nicht nur von der Astropsychoanalyse, sondern ein wenig auch von Ethno- (und auch Öko-) Psychoanalyse reden will. Es geht um die Welt von Shiv Dayal Singh, einem 1818 in Nordindien geborenen Yogi, der anfänglich siebzehn Jahre in einem abgedunkelten Zimmer meditiert hatte, dann aber das ‚spirituelle‘ Leben all dieser Sadhus und Wahrheitssucher in Indien erheblich modernisierte. Er drängte nämlich darauf, dass man sich nicht mehr mönchisch zurückziehen, sondern einen bürgerlichen Beruf ergreifen, Familie gründen und darüber hinaus eben auch noch ‚spirituelle‘ Yogaübungen absolvieren sollte. In seinem Buch Sar (Wesen) Bachan (Wort) beschreibt er ein sehr umfassendes mystisches System, das uns heutzutage – und vor allem im Westen – äußerst phantasievoll und völlig spekulativ erscheint. Für Indien waren seine Ausführungen jedoch revolutionär und es gibt noch heute viele Epigonen, die seine Übungen praktizieren.

 

So ist es trotzdem interessant sich mit Shiv Dayal Singh und seinem Sar Bachan zu beschäftigen. Denn er baut ebenso auf dem Wort- und Bildbezogenen auf wie es die Psychoanalyse tut und wie es sich auch in anderen Wissenschaften nachweisen lässt, was ich ja argumentativ favorisiere.  Sar ist das bild- und lichthafte Wesen und bei Bachan geht es genau um das Worthafte der Signifikanten. Und beide sind wiederum die Grundprinzipien, die Kräfte, Triebe, die man in ihrem Wesen aufsuchen, dann aber auch in die Meditation einbringen muss. Um dies zu bewerkstelligen, muss man – schreibt Shiv Dayal Singh – zuerst einmal ‚Simran’ üben. ‚Simran‘ (Wiedererinnern, Wiederholen) bedeutet  etwas Ähnliches wie das Wiederholen der Formel-Worte, es werden jedoch Sanskrit-Worte bzw. –Namen verwendet, von denen behauptet wird, die trügen die Kraft des Gurus in sich.

Doch was heißt das? Eine ‚spirituelle’ Kraft, was soll das sein? Hier handelt es sich wohl um eine mythisch-magische Vorstellung. Der Begriff der Kraft ist viel zu diffus, pauschal und uferlos, als dass man ihn nur als physisch bedingt ansehen könnte. Er wird auch von den Geisteswissenschaften beansprucht, wenn von der Kraft gut argumentierender Gedanken geredet wird. Überhaupt wird ständig in irgendeinem Zusammenhang von Kraft geredet und jedes Mal etwas anderes gemeint. Freud hat den Kraftbegriff in den Trieben mit einer ihnen eigenen ‚Energie’, der der Libido versehen. Wenn man von geistigen Kräften spricht, ist damit meist ein hohes Maß an Intellektualität, Bildung und sprachlicher Kombinationsfähigkeit gemeint, während ‚spirituelle‘ Kräfte nicht zu definieren sind. Dass derartige Kräfte aber in den Dingen selbst stecken oder – wie es im Yoga oft heißt – direkt vom Guru auf den Schüler ‚übertragen’ werden können, kann man in der heutigen modernen Kultur und in den Wissenschaften absolut nicht akzeptieren.

Dagegen beinhalten die Formel-Worte eine intellektuell nachvollziehbare linguistische Struktur, die mit der des Unbewussten koinzidiert und so die geschilderten Pass-Worte freisetzen kann. Eine Kraft kann man ganz im Sinne der Psychoanalyse nur dem bildbezogenen Schau- und dem wortbezogenen Sprechtrieb zu, die ihre ‚Kraft‘ aus diesem ihnen völlig eigenen  Bereich der ‚genießenden Substanz‘ beziehen. Allerdings ist das Wort ‚Energie‘ hier nicht angebracht. Ich schlage daher vor K. Barads Ausdruck von der Raum-Zeit-Verschränkung zu benutzen, so philosophisch und kantianisch er auch klingt. Dabei kann ich leicht dem Raum das Bildbezogene, der Zeit das Wortbezogene zuweisen. Wie Lacans Signifikanten hat die Raum-Zeit-Verschränkung Realbezug, und das muss vorerst genügen.

Bleiben wir also bei Shiv Dayal Singhs Yoga, in dem  außer dem ‚Simran‘ noch ‚Dhyan‘ (Versenkung, bildbezogene Betrachtung) und ‚Bhajan‘ (wortbezogenes Hören oder Singen) existiert. Damit macht Shiv Dayal Singh also durchaus etwas Vergleichbares wie in der Analytischen Psychokatharsis. Während der Yogi ‚Simran‘ übt, also das Wiederholen der Sanskritworte praktiziert, begibt er sich gleichzeitig in Versenkung und innere Betrachtung (‚Dhyan‘). In einer zweiten Übung übt er ‚Bhajan‘, das Hören des ‚inneren Klangs‘, der auch ‚Naam‘ (Wort) genannt wird. Während nun ‚Dhyan‘ sich letztlich auf die Betrachtung des Gurus im Inneren als einer gottgleichen Gestalt bezieht, werden beim ‚Bhajan‘ außer dem ‚Klang‘ oder mehreren ‚Klängen‘ auch Worte des Gurus vernommen, die seine Lehre betreffen.

Es heißt, dass der Yoga-Übende zuerst das Gefühl und die Erfahrung eines geweiteten inneren Raumes machen muss. Doch dieser Raum bleibt nicht dunkel. Je mehr er sich weitet, desto mehr erscheinen ‚Lichtpunkte‘, kurz das, was man in vielen Meditationen des ‚Astrale‘ nennt, weil man die ‚Lichtpunkte‘ als Sterne deutet. Sodann muss man sich auf den hellsten bzw. Hauptstern konzentrieren, was an die ähnlichen Geschehnisse Hildegards von Bingen erinnert. Durchdringt man diesen ‚Stern‘, wird man der Augen-Stirn-Region des Gurus gewahr und glaubt sich in realer Kommunikation mit ihm. Es ereignet sich aber dabei kein innerer, echter und freier Dialog, wie es beim Dialog mit dem Unbewussten in der Analytischen Psychokatharsis der Fall ist. Aber ein gewisser wortbezogener Austausch findet im Inneren des Yogis mit seinem Guru statt, was immer das heißen mag. Doch mit Sicherheit handelt es sich nicht um eine Möglichkeit, das Schicksalslogo durch diese ‚astro-mentale‘ Kommunikation wie sie auch genannt wird, zu ändern und zu verbessern.

Es klingt zwar alles sehr einfach, weist aber eben doch eine gewisse Begrenzung auf. So ist der ‚Dhyan‘ in Form der göttlichen Gestalt des Lehrers etwas, was wir in der Psychoanalyse eine bildbezogene Übertragung nennen würden, die aufgelöst werden muss, um die wahre, dahinterliegende Bedeutung zu erkennen. Tatsächlich muss auch im Yoga diese Übertragung in den höheren Ebenen, nämlich schon in ‚Trikuti‘ und darüber wieder aufgelöst werden (siehe die Abbildung der Ebenen nebenan). Während die Auflösung der Übertragung in der Psychoanalyse über intellektuelle Einsicht (die erwähnten Übertragungsdeutungen) vor sich geht, weiß der Yogi immer noch nicht genau, warum er dies eigentlich alles tut. Er wird lediglich von dem Gefühl einer Innigkeit, einer Katharsis, einer Hochgestimmtheit weitergetragen, um durch fortgesetztes Meditieren zu den immer noch zahlreichen weiteren und höheren Ebenen zu gelangen.

Auch ist das Wesen der Sanskritworte nicht nur wegen ihres magischen Kraftbegriffes unklar. Warum sind es gerade diese Worte bzw. Namen und nicht andere? Warum wird der Intellekt so unterdrückt und dem Schüler doch ein hohes Maß an Askese abverlangt? Auch wenn seine Nachfolger nicht mehr siebzehn Jahre in einem abgedunkelten Zimmer meditierten, mussten sie und müssen sie auch heute noch sehr viel Zeit in ihre ‚spirituellen‘ Übungen, Ernährungs- und Anstandsregeln investieren. Dennoch finde ich den Yoga  Shiv Dayal Singhs  - alles in allem - sehr interessant, weil er zweifellos eine beson­dere Persönlich­keit war, wie aus biographischen Berichten zu schließen ist.

So hatte er viele Schüler und es etablierten sich viele Folgeorganisationen. Sowohl im großen Indienreiseführer Lonely Planet wie auch in O. Schulz Indienbericht gibt es ausführliche Hinweise auf das heute noch bestehende Zentrum und riesengroße Mausoleum Shiv Dayal Singhs in Agra, Nordindien. Schulz beschreibt die für heute typische Devotionalienkultur, die man um den großen Meister bis heute macht und wie wenig er sich als moderner ‚Westler‘ dort zu Hause fühlen kann.[1] Es ist das reine Epigonentum, die verkrustete Heiligenbeschwörung, die man überall da findet, wo nichts mehr Echtes, Wirkendes ist. Man muss eben ein paar Seiten im Sar Bachan lesen, um für heute wenigstens den Clou von Shiv Dayals Singhs Leben zu erhaschen.

Seine Lehre beinhaltete einen immensen ‚spirituellen‘ Überbau von acht hierarchisch geschichteten Ebenen, die sich wiederum in acht entsprechenden Ebenen im Körper nach unten hin spiegeln würden. Ich zeige hier in der Abbildung eines Yogis die Bezeichnungen seiner Körper- und Geist-Schichtungen (hier sind allerdings nur fünf aufgelistet), und habe sie neben einen der sogenannten ‚Graphen‘ von Lacan gestellt. Es ist nicht nötig die Gegenüberstellung zu verstehen, es geht hier nur um den rein typologischen Vergleich.

Immerhin erkennt man sofort, dass auch wir heute zur Erklärung psychoanalytischer Vorgänge komplex geschichtete graphische Darstellungen benötigen, die den ‚spirituellen Ebenen ähneln und dafür psychodynamische Schichtungen enthalten. Ich habe sie so beschriftet, dass man sehen kann, wie das Bildbezogene (Strahlt) sich doppelt mit dem Wortbezogenem (Spricht) kreuzt. Eine Ebene darüber zeigt sich die eigentlich tiefer im Unbewussten liegende Dynamik von ‚Genießen‘ und (symbolischer) ‚Kastration‘, die scheinbar irgendwie mit dem ‚spirituellen’ Überbau im Yoga von Shiv Dayal Singh korreliert.

Shiv Dayal Singh hat jedoch gleich anfangs in seinem Buch auch ein sehr vereinfachtes Schema seines Yoga gegeben. Hier benötigt er nur drei Ebenen. Die mittlere, die er ‚Brahmand‘ nennt, bezieht sich auf eine umfassende Vorstellung des menschlichen Wesens, das in seinen sozialen, emotional-psychischen und geistigen Bereichen allen Aspekten des individuellen und kollektiven menschlichen Lebens genügt. Darin sind also auch alle religiösen Strebungen, alle kulturellen Errungenschaften und persönlichen Charaktere erfasst. Wörtlich übersetzt heißt ‚Brahmand‘ so viel wie der ‚umfassendste Kern von Allem‘. Nun gibt es unterhalb von ‚Brahmand‘ noch ‚Pind‘, das rein Körperlich-Materielle, an dem auch der menschliche Körper teilhat, und sodann – entsprechend dem schon vorhin Gesagten – existiert über ‚Brahmand‘ noch ‚Sat Desh‘ oder ‚Sach Kand‘, die rein spirituelle‘ Region, die Region des ‚spiritus purus‘ wie ihn die christlichen Theologen nennen, Gott selbst also, das abgehobene Transzendente. In dieser einfachen Dreiteilung entspricht ‚Brahmand‘ in etwa der Position zwischen dem ‚Anja-Chakra‘ und ‚Sahansdal Kanwal‘, So finden sich bei Verwendung aller Ebenen jeweils fünf nach unten und oben gehende Ebenen, die also auch Spiegelungen darstellen, indem z. B. das oberste sich im Untersten reflektiert, das Zweitunterste im Zweitobersten usw. Bei der vereinfachten Darstellung mit nur drei Zentren, stellt das untere die Physis dar und das oberste den sogenannten ‚spirituellen Raum‘.

Meist wird bei Shiv Dayal Singh jedoch der Überbau von vielen ‚spirituellen‘ Ebenen benötigt, weil er über keine Wissenschaft verfügte. Hätte er die Psychoanalyse gekannt, wäre ihm schnell aufgefallen, dass es offensichtlich an der Einschätzung des untersten Körperzentrum, des Muladhara-Chakras liegt, dass man nun umgekehrt (entsprechend des perfekten Spiegelung) im Geistigen bis in solche Höhen gehen muss. Denn Muladhara ist das Zentrum das anal Aggressiven und jeder Art Sexuellen. Aber ist dies alles so gefährlich, dass man sich so extremen Askesen und Höhen hingeben muss, wie Shiv Dayal Singh dies getan hat? Muss man also so viele ‚spirituelle Kräfte‘ erwerben, nur um Muladhara in Schach zu halten? Gemäß seinen Lehren hatte Shiv Dayal Singh Familie und übte den bürgerlichen Beruf eines Sprachenlehrers aus. Später begann er  schließlich auch öffentlich zu predigen (Satsang zu halten).

Was mir wichtig erscheint ist jedoch nicht all dies traditionalistisch Asketische des typischen indischen Gurus, dessen Vater schon mit Guru Nanak, dem Gründer der Sick-Religion und anderen indischen Heiligen beschäftigt war, sondern die Tatsache, dass er einen sehr praxisnahen Weg der Selbstsublimierung ging, der sich mit der Psychoanalyse vergleichen lässt. So ist Sat Desh oder Sach Kand kein Gott, sondern die Erfahrung des Schülers, des Meditierenden selbst. Man ist dann zwar nicht der absolute, allmächtige, allwissende und wer weiß was noch alles Gott, kann aber dessen Position eingeschränkt auf eine gewisse Zeit und  Region einnehmen. Wie der psychoanalytische Wissenschaftler braucht man sich um Gott nicht mehr zu kümmern, da man ihn selbst in gewisser Weise darstellt bzw. dessen Job weitgehendst übernommen hat.

Schließlich ist der Gott der verschiedenen Konfessionen auch nur eine eingeschränkte Version des eigentlich Ur-Einen, weshalb sich ja die Gläubigen seit jeher gegenseitig umbringen. So gesehen ist eine Methode, die einem nahelegt, Sat Desh oder Sach Kand, einen göttlichen Zustand in sich selbst zu erreichen, gar nicht so schlecht. So heikel die Angelegenheit ist, den Platz Gottes doch in eingeschränkter Form selbst zu besetzen, so vorteilhaft ist dies für die Therapie. Jeder könnte es sein. Shiv Dayal Singhs ‚Sat Desh‘ korreliert sehr genau dem Anderen in Lacans Psychoanalyse, der ja der Hort aller möglichen Sichtweisen (Bildbezogenheiten) und Signifikanten (Wortbezogenheiten) ist.

In der ‚genießenden Substanz‘ schwimmend kann der Yogi wie der Analysierte, der in seinem ‚guten, konstanten Objekt‘ badet, die ‚Beziehnisse‘ wort-bildlich gestalten. Das eröffnet eine ‚logische Praxis‘, ein Begriff, der für den Surat Shabd Yoga[2] genauso gilt wie für die Psychoanalyse. Ich sehe die Physik nicht mehr als die Leitwissenschaft unserer Zeit an. Eher ist es die durch Freud und später durch Lacan entwickelte psychoanalytische Konjekturalwissenschaft,[3] die eben oft besser als ‚logische  Praxis’ bezeichnet wird. Sie hat Gott als Begriff nicht entbehrlich gemacht, wohl aber als wirksames Agens. Der Gottesbegriff geht bei Lacan mehr in dem des groß zu schreibenden Anderen auf, in dem sich die Stimmen vieler Strebungen, vieler Signifikanten tummeln.

Man kann also den Ballst aller Wissenschaften und religiösen Konfessionen  beiseite lassen und sehen, indem wir heute den Bezugspunkt bzw. Höhepunkt von Sach Kand in konjekturalwissenschaftlicher Form ausdrücken und erreichen können, Schließlich ist Freuds ‚Sexualtheorie‘, auf der er so sehr insistierte, auch nichts anderes als die Beschäftigung mit Muladhara und all den Zentren des Unbewussten, um von dort aus zur Bewusstheit aufzusteigen, d. h. dass jeder selbst lernen muss, die Kräfte in sich zu ordnen und in sprachliche Form zu bringen. Egal wie man den Höhepunkt hier nennt, für die Psychoanalytiker der ersten Generation, hat Freud Gott entbehrlich gemacht. Der Höhepunkt bestand und besteht auch heute noch darin vollkommen analysiert zu sein und nichts mehr zu haben, was man dem Analytiker noch sagen könnte.

Es sei denn, man theoretisiert die Psychoanalyse verbessert und neu. Wenn man durch eigene Analyse und Sublimierung zum Pionier der psychoanalytischen Leitwissenschaft werden kann, ist dies noch mehr wert und hebt einen – so die Psychoanalyse heute Leitwissenschaft ist – tatsächlich in eine quasi göttliche Position. Seit Freud, dem Vater dieser Wissenschaft, ist kein so bedeutender Pionier und Lehrmeister mehr aufgetaucht. Eine Ausnahme macht Lacan, von dem viele gesagt haben, er sei der ‚maitre absolu’, der absolute Herr und Meister.[4] Und das war er auch. Kein Gott natürlich, aber einer, der den Fortschritt der Wissenschaft repräsentiert, während der Papst in den Hintergrund getreten ist und Gott – wie der katholisch orthodoxe Religionsphilosoph R. Spaemann sagte nur noch ein „unsterbliches Gerücht ist“.

Das ist keine negative Aussage, aber mit Sicherheit auch keine ‚logische Praxis‘. Dagegen kann man von so jemanden wie Shiv Dayal Singh – wenn auch nicht sehr logische – so doch konkrete Praxis lernen, indem er auch ein Beispiel für die Ethnopsychoanalyse abgeben würde. Er repräsentiert eine andere Ethnie und eine andere Kultur auf einem hohen Niveau, auch wenn sie heute für die Wissenschaft nicht brauchbar ist. Aber das Wesen der Grundstrukturen ist gegeben, man muss sie nur um 180 Grad herumdrehen, wie wir dies auch heute mit den Lehren früherer Mystiker tun. Ich habe es zumindest am Beispiel der Heilen Theresa von Lisieux gezeigt, dass sie etwas Besonderes war, wenn auch heute absolut nicht mehr nachvollziehbar.

Shiv Dayal Singhs ‚spiritueller‘ Weg mit seinen hierarchischen Ebenen erinnert auch stark an die ‚Seelenburg‘ der Heiligen Theresa von Avila. Auch hier gibt es viele Wohnungen, die der Meditierende bis zum Höchsten durchwandern muss, was die Heilige als häufig sehr schmerzhaft und quälend beschreibt. Klar, sie musste ständig auf der Hut sein, dass beispielsweise ihre ‚Verstandesschauungen‘ nicht Eingebungen des Teufels waren. Es war damals ein mühsamer Weg, doch auch sie äußert sich in der Richtung, dass sie die herkömmliche Priesterkaste nicht benötigte und selbst die ‚Trinität geschaut habe’. Sie besaß auch Humor. Als sie einmal mit ihrem Ochsenkarren bei einer Flussüberquerung umstürzte, hörte sie eine Stimme von oben her sagen: „So behandle ich meine Freunde“. Gewitzt entgegnete die Heilige: „Deswegen hast du auch so wenige.“ Sie wusste also um die karge Bilanz der Amtskirche.

Ich habe schon anfänglich den Begriff ‚spirituell‘ kritisiert. Präzise von Freud ausgehend müssen wir die ‚spirituellen‘ Ebenen ja als einen hypomanischen Abwehrmechanismus ansehen. Aus lauter Angst vor Sexualität und Aggression flüchtet sich der ‚spirituelle‘ Mensch in extreme Höhen, anstatt sich konstruktiv mit dem Unbewussten und den in ihm schlummernden Begehren intellektuell und diskursiv auseinanderzusetzen. Auf das Beispiel der unverhüllten Erotik mit dem blondgelockten Jüngling bei der gerade erwähnten Therese von Avila habe ich ebenfalls hingewiesen. Lacan nannte sie daher eine der ‚urwüchsigsten Bumserinnen’, was fast etwas blasphemisch ist, denn gerade dazu – also zur äußerlichen Realität dieses Aktes –  ist sie ja nicht gekommen. Doch die Meditation mit dem Jünglings-Engel gehört eben bei ihr genauso wie der Humor zum Luxurierenden ihrer Erfahrungen. Der Überfluss ist auch ein Zeichen der Astro- und Ökopsychoanalyse.

Der Psychoanalytiker H. Stein versuchte in seinem Buch ‚Freud spirituell‘ einen Ausweg aus dem Konflikt zu großer Höhen und Tiefen zu finden. Er stützt sich auf den etwas diffusen Begriff des ‚Selbst‘, der sozusagen ein erweitertes Ich darstellt. Manchmal benutzt er zwar das Wort ‚Subjekt‘ für diesen im psychischen Sinne nicht nur auf das Ego begrenzten Menschen, aber letztlich bleiben mythisch-mystische Beschreibungen von Yoga und indischer Meditation neben den psychoanalytischen Einlassungen unzusammenhängend bestehen. Im Jargon der Marxisten könnte man sagen, er ist ein psychoanalytischer ‚Linksabweichler. Er bleibt nicht auf der rechten Linie Freuds. Er verrät ein ödipal seinen Lehr-Vater.

Nun ist er nicht der einzige, der versucht die kreative Seite des Unbewussten zu beschwören. Ich habe schon S. Leikert erwähnt, der nicht nur zum musikalischen Unbewussten Stellung bezogen hat. Leikert will die aufs Sprechen und die Sprache bezogene Psychoanalyse von der unterscheiden, die sich mehr auf die Semantik der Wahrnehmung, der Ästhetik und Binnensensibilität bezieht.[5] Er spricht auch von „kinästhetischer Semantik“, eine von der Binnenempfindung und der inneren Bewegung (vom griechischen kineo, bewegen) abgeleitete Bedeutungslehre. Auch der Psychoanalytiker R. Zwiebel betont diese mehr meditative und kathartische Seite, die in der Psychoanalyse von heute umfangreicher berücksichtigt werden sollte. Zwiebel bezieht sich wie H. Stein auf Yoga und Zen, hier jedoch auf die Freud´sche Selbstbeobachtung und Selbstanalyse, bei des es ja auch mehr um die innere Wahrnehmung, die Binnen-Bedeutung ging.[6]

Leikert sieht wie erwähnt die klassische Psychoanalyse zunehmend erstarrend in Richtung einer sprachbasierten, an Lexemen orientierten Arbeitsweise fortschreiten. Freud hätte noch so etwas wie kathartische, befreiend-entspannende Momente in der Therapie gekannt. Wie gesagt gibt es einen Schautrieb, ein „ultrasubjektives Ausstrahlen“ und ein „universales Gemurmel“, einen „Verlautens“- oder Sprechtrieb. Die beiden sind primär-primitiv kombiniert, durch Therapie oder Meditation kann aber eine optimierte Kombination erreicht werden. Wie von Leikert betont wird also heutzutage therapeutisch nur noch in Richtung einer gesellschaftlichen Realität und einer starren sprachäußerlichen Subjekt-Objekt-Dualität vorgegangen. Das Wortbezogene,  das ‘Spricht’ wird zwar betont, was fehlt, ist aber das „Sich-Einlassen auf die sinnliche Logik der Wahrnehmung, vor allem auf den Rhythmus der Binnenwahrnehmung, auf die „kinästhetische Wunschmatrix“, schreibt Leikert in dem oben erwähnten Buch.

Zum Schluss noch ein weiterer Hinweis auf den ethnopsychoanalytischen Aspekt von Shiv Dayal Singhs Leben und Werk. Denn es geht bei ihm um eine völlig andere Zeit, andere Kultur, andere Menschen, kurz: ums totale Anderssein, wie es auch in Lacans Konzeption des großen Anderen steckt. Es handelt es sich also um eine Art der Ethnopsychoanalyse, wie ich sie hier in diesem Buch schon anfänglich erwähnt habe und im nächsten Kapitel fortsetzen werde. So spielen im alten Indien wie bei den Primärvölkern andere Abwehrmechanismen als der der bei uns üblichen Verdrängung eine stärkere Rolle.  Dies haben vor allem die schon früh der Psychoanalyse zugewandten indischen Therapeuten selbst erkannt. Der erste dieser Psychoanalytiker, G. Bose, entwickelte nämlich im Gegenzug zu Freuds Definition des Ödipuskomplexes den Komplex der „gegensätzlichen Wünsche“ (opposit wishes) oder Affekte. Der von Freud postulierten Kastrationsangst des Knaben setzte er z. B. den unbewussten „Wunsch eine Frau zu sein“ gegenüber.

Dieser unbewusste Wunsch musste dann vom Therapeuten dem Patienten bewusst gemacht und mit der äußerlichen Situation versöhnt werden. Tatsächlich findet sich im Surat-Shabd-Yoga von Shiv Dayal Singh etwas Vergleichbares in der Betonung der Guru-„Bhakti“, der devoten, hingebungsvollen Liebe zum „Meister-Guru“ wieder. Hingabe und Empfänglichkeit sollten bis zum Geht-nicht-mehr entwickelt werden, was nichts anderes bedeutete, als eine weibliche Struktur in der Meditation zu betonen. G. Bose pflegte seine Patienten und sich in Liegestühlen zueinander zu positionieren und den unbewussten Wunsch direkt anzusprechen.

Shiv Dayal Singhs Nachfolger haben diesen Aspekt der Guru-„Bhakti“ noch weiter herausgearbeitet. Letztlich ging es dann wirklich um eine Art der Konzeption, der „Empfängnis“, wenn man in der „Verschmelzung“ mit dem Guru dessen Lebensimpuls in sich verinnerlichen sollte. Bei Bose sollte dann der männliche Patient mit der als weiblich angesehenen Empfänglichkeit den Instruktionen des Therapeuten folgen, was im klassisch analytischen Sinne äußerst problematisch ist. Andererseits ist es nicht weniger problematisch, wenn Freud hinsichtlich der „gleichschwebenden Aufmerksamkeit“ den Analytiker anwies, er solle dem Patienten „sein Unbewusstes als empfangendes Organ zuwenden“.[7] Wie sollte diese Art jungfräulicher Empfängnis vor sich gehen, um es humorig zu sagen?

Grundsätzlich lagen die indischen Psychoanalytiker aber gar nicht so schlecht, wenn sie tief verwurzelte entgegengesetzte Wünsche, nämlich z. B als Mann männlich und gleichzeitig mütterlich-weiblich sein zu wollen, als Ausgangspunkt hinstellen. Im Surat-Shabd-Yoga werden diese Wünsche als vereint und zumindest durch Einheitserlebnisse  („astral“ aber auch „mental“) als erfüllt dargestellt. Dies führt dazu, dass die Nachfolger Shiv Dayals Singhs oder die Schüler des Surat Shabd Yoga heutzutage am öffentlich-wissenschaftlichen Leben des Westens nur schwer teilnehmen, denn sie sind schon von diesen mystischen Erfahrungen her saturiert. Von einer Schülerin Sawan Singhs, eines Nachfolgers von Shiv Dayal Singh im letzten Jahrhundert, die einen unerfüllten Kinderwunsch hatte, wurde berichtet, dass sie eines Tages anderen Schülern erzählte: „Der Meister hat mir ein Kind geschenkt“! Diese Übergabe „astraler“, phantasmatischer Art und Einheitserfahrung  hat die Frau zwar irgendwie beruhigt. Die Heilung von ihrem Kinderwunsch bezahlte sie jedoch mit einer erheblichen Schwächung ihres Verstandes. Auf solch typische Reaktionen im Yoga kann man nicht oft genug hinweisen.

Sie zeigen die Abwehrmechanismen der Spaltung und Verleugnung,  die man im ländlichen Indien und bei Primärvölkern häufiger findet. Auch wenn diese nicht gravierender sind als die Verdrängung, so wirken sie auf uns doch grotesker. Und doch sind auch die christlichen Mystiker nicht immer verständlicher und verbindlicher gewesen. Juan de la Cruz wirkte mit dem Gedicht der ‚Dunklen Nacht der Seele‘ nicht gerade ermutigend. Und doch: mit der ‚vom Liebesdrang durchglühten Sternennacht . .‘ als ‚dichosa ventura‘, als ‚wunderseliges Los‘ deliriert das Gedicht durch die dunkle Einsamkeit der Meditation, die heute manchmal nicht anders verläuft als damals. Man darf hier die Schwülstigkeit und Schwärmerei nicht sehen, sondern muss die Selbstsublimierung spüren, dass es einen hochzieht ganz im Sinne von Platons manischem Eros. Nur benötigt man keine Kirche dafür, keine Konfession und auch kein unglückliches Mittelalter mehr. Man braucht nur den ‚linguistischen Kristall‘ der Formel-Worte und die Antwort aus dem Unbewussten – oh dichosa ventura!



[1] Schulz, O., Indien zu Fuß, DVA (2011), S. 239 - 243

[2] Dies ist der Name, der dem Yoga Shiv Dayal Singh gegeben wird. Surat heißt Aufmerksamkeit, Shabd Ton oder Wort.

[3] Konjektur heißt Vermutung. Indem man von einer Vermutung zu immer präziseren Vermutungen aufsteigt, bekommt man Beweiskraft. Speziell in der Mathematik ist dieser Weg bekannt.

[4]Borch-Jacobsen, Ml., Lacan Le maître absolu (1990)

[5] Leikert, S., Schönheit und Konflikt, Umrisse einer allgemeinen psychoanalytischen Ästhetik, Psychosozial Verlag (2012).

[6] Zwiebel, R., Weischede, G., Neurose und Erleuchtung, Klett-Cotta (2009)

[7] Freud, S., G. SW. VIII, S. 381