Sehen ist Sein

Sehen ist Sein.
Ja? Ist das nicht etwas zu pauschal und unplausibel ausgedrückt? Freud postulierte einen Wahrnehmungs- bzw. Schautrieb als einen der Grundtriebe im Menschen. Er leitete daraus die Wahrnehmungsidentität ab, also einen primitiv-primären Vorgang neuropsychologischer Art, indem man sich mit dem identisch auffasst, was man wahrnimmt bzw. unmittelbar 'sieht'. Besser gesagt: welches Objekt man durch Sehen völlig  einkreist und auf diese Weise eigentlich erst zum wirklichen Objekt macht. Der englische Psychoanalytiker S. Akhtar beschreibt dieses Phänomen so: ‚Wahrnehmungsidentität (Perceptual Identity) bezieht sich auf das seelische Beharren (insistence) auf der ständig wiederholten Suche nach dem Objekt, das eine wirklich zufriedenstellende Entspannung gewährleistet (discharge of tension).‘ 

 

‚Es ist‘, schreibt er weiter, ‘als ob das Gefühl der Befriedigung mit der Wahrnehmung dieses Objektes identisch geworden wä-re.‘ Lacan versucht diesen Vorgang mit dem Begriff des Signifikanten einzufangen. Objekt und Auge sind wie zu einer ‚Erscheinung mit Bedeutung‘ geworden, wie zu einem Erfahrungsknoten, also zu etwas, indem sich eine Wahrnehmung, Erfahrung, Erkenntnis zusammenwickelnd verdichtet und so eine Objekthaftigket erzeugt.
Nach psychoanalytischer Auffassung ist dies also ein Primärvorgang des Triebs, der weniger von seiner physiologischen Seite her gesehen wird, als von seiner Entspannungs- und Lustseite. Es geht also auch um eine Schaulust, die diesen Vorgang dominiert. Doch ist diese Lust kein billiger Spaß, sondern ein ernsthaftes Geschehen vor allem bei der kindlichen Wahrnehmung. Der Naturphilosoph R. Carnap meinte daher, Kinder nehmen anfänglich die Welt nicht-euklidisch wahr, also nicht nach herkömmlicher, rationaler Geometrie, sondern nach Maß-gabe der Einstein‘schen Vorstellungen von raum-zeitlicher Verschiebungen, wie sie ja auch von Picasso und anderen modernen Malern künstlerisch dargestellt wurde. Das Sein ist von der Schaulust durchdrungen, und gerade die neueste Physik gibt uns Hinweise dafür, dass dies tatsächlich mehr ist als die triebbezogene ‚discharge of tension‘.
Die modernen Stringtheorien aber auch die supersymmetrischen Theo-rien der physikalischen Grundlagen sind nicht mehr experimentell wie früher zu beweisen. Aber sie haben dennoch Berechtigung. Wie will man sonst diese ungeheuren Schwierigkeiten bei der Erfassung des Wirklichen zwischen Mikro- (kleinste Elementarteilchen) und Makro- (astronomische Übergrößen) Kosmos meistern? Doch beim Lesen all dieser modernen Fachliteratur (auch neurophilosophischer und ande-rer) kommt man immer mehr dazu, dass bei diesen Strings oder neurobiologischen Grundeinheiten (Synapsenverschaltungen) etwas Sub-jektbezogenes im Spiel ist. Am deutlichsten wird dies immer da, wo eine physikalisch punktrelevante Einheit an zwei Punkten zugleich sein kann wie bei sogenannten Verschränkungsexperimenten.
Dieses Subjektbezogene ist also gar nicht nur subjektbezogen. Es hat auf jeden Fall eine reale Komponente, so wie auch der Lacansche Signifikant eine solche hat. Was durch das ‚Sehen’ zum Objekt wird, nennt Lacan daher auch ein ‚ultrasubjektives Ausstrahlen‘ und der Philosoph M. Foucualt spricht von primären ‚Kraftlinien‘. Alles zielt auf einen Knoten ab, der aus so etwas wie topologischen Einheiten besteht, die sich zusammenziehen und wieder neu umschlingen als seien sie aus biegsamen Linien und Strahlen gemacht, die real sind. Es handelt sich nicht um die Realität dessen, was Aristoteles mit der ‚ausgedehnten Substanz‘ gemeint hat, der man die ‚denkende Substanz‘ von Descartes gegenübergestellt hat. Aber es gibt seit Freud noch eine dritte ‚Substanz‘, die er als die ‚genießende‘ bezeichnete und die gut zu dem passt, von dem ich ausgegangen bin, nämlich der ‚Substanz‘ die durch den ursprünglichsten Wahrnehmungsvorgang, den primärsten Erfassungszustand nicht als das physikalisch-realistische, aber doch als das reale Objekt der Wahrnehmungs- bzw. Schaulst angesehen werden kann.
Was ist also nun realer? Das, was zur physikalischen Realität erstarrt ist, oder was wir durch etwas mehr Subjektbezogenes als ‚genießende Substanz‘ zum ‚Objekt‘ machen können? Doch ob man dies nun genau so auffasst oder nicht, Wahrnehmung in ihrer frühesten, primitiv-primären Form, verbindet sich unweigerlich mit etwas Objekthaften (es muss ja nicht das ganze Objekt sein, wie wir es rein physiologisch als Pixel-zu-Pixel wahrnehmen). Es genügt ja, dass es ein signifikanter Zug eines Objektes ist, der dadurch vielleicht viel objektartiger wird, als etwas, das man – man kann es nur so sagen – nur ‚erglotzt‘ hat.
Nicht sehen, besser ‚Schauen‘, kontemplativ wahrnehmen, ‚erschauen‘, ursprüngliches, erfassendes Partizipieren ist Sein, denn was sollte sonst sein, zugespitzt sein, wesend, schöpfend sein, summoning up. Sein, das nur ist und sonst nichts – wer könnte davon sagen, dass es wirklich ist? Um einen tatsächlichen Geschmack davon zu bekommen, muss man freilich so etwas tun wie meditieren oder sich sehr intensiv mit moderner Topologie beschäftigen oder sonst etwas Ähnliches tun. Man muss den früheren Blich wieder bekommen, mit dem man die Dinge hat Sein lassen. Ein Wahnkranker ist von diesem seinem Ur-Blick so überzeugt, dass kein Psychiater ihn von etwas anderem überzeuegen kann. Umgekehrt nimmt der als krank Bezeichnete den Psychiater als verrückt wahr. Beide haben recht. Freud hat zur Klärung dieses Problems einen Vorschlag gemacht.
Er postulierte dazu die sogenannte Ur-Szene. Man habe ganz früh das Intimleben der Eltern mitbekommen, von den man ausgeschlossen war. So wurde ein negatives Wahrnehmungs-Objekt geschaffen, das eben später den Blick fürs wirkliche Wahrnehmen versperrt hat. Kann man sich wieder an die Ur-Szene erinnern, plastisch, in klaren, deftigen Worten, klärt sich diese Versperrung auf. Natürlich handelt es sich nicht immer um die Freudsche Ur-Szene, die so versperrend wirkt. Es kann auch etwas anderes sein. Ich habe dafür ein Verfahren entwickelt, das auf meinen Webseiten ausführlich dargestellt ist und sich einer wissenschaftlich begründeten Meditation bedient.