Geschlechtsverkehr und Geschlechtsverhältnis

Vor einiger Zeit veröffentlichte der französische Philosoph J. Nancy ein Buch mit dem Titel „Es gibt - Geschlechtsverkehr". Eine seltsame Headline. Als ob man das nicht wüsste und nicht schon bald jeder früh Pubertierende eine klare Vorstellung davon hätte. Klar gibt´s das, Baiser, Vögeln, Sex haben. Doch Nancy bezieht sich auf einen Ausspruch, den Lacan in seinen Seminaren häufig verwendete: „Il n´y a pas de rapport sexuel", was man am besten übersetzt mit: Es gibt keine eigentliche Beziehung, kein wirklich sag- und beschreibbares Verhältnis unter den Geschlechtern. Also keine Beziehung zwischen dem, was man im vollen Sinne Mann und in ebenso vollem Sinne Frau nennen würde. Kein Geschlechter-Verhältnis. Geschlechtsverkehr dagegen hat etwas mit der genitalen Beziehung zu tun, also mit dem, was man lateinisch sexus nennt und nicht genus. Sex gibt es ständig, aber die Beziehung unter den Geschlechtern? Zwischen dem männlichen und dem weiblichen Genus? Wirkliches Sexuelles?


Ist da vielleicht etwas anders? Nancy paraphrasiert den Lacanschen Text und wei(d)(t)et ihn philosophisch aus. Schon der französische Text zeigt deutlich, dass die deutsche Übersetzung von Nancys Buchtitel nicht ganz stimmig ist. „L´ ‚il y a‘ du rapport sexuel" < heisst: Das Gegebene, das „Ex-sistieren" in der sexuellen Beziehung. Nancy stellt ganz besonders das „Verhältnis" als ein eigenständiges Wesen heraus. Es geht bei ihm um einen „Intimitäts-Zwischenraum", um ein „Verhältnis zum Verhältnis, das nicht „ein Seiendes ist, sondern das sich zwischen dem Seienden ereignet". Das Sexuelle sei seine eigene Differenz, schreibt er weiter, es ist ein „Eins-Nichts", was die Lacansche Mathematik aufnimmt, in der eine Eins eine Null für eine andere Eins repräsentiert. All dies klingt schon sehr abgehoben, und so bedarf es einer vereinfachten Klärung.
Denn Nancy würde sicher zustimmen, wenn man sagt: diesen seinen Text lesen heißt ihm bei seiner Art Sex zu haben oder Liebe zu machen zuzuschauen. Schon Freud hat die Philosophen als sublime Hysteriker bezeichnet, als literarische und durchaus nette, schätzenswerte Münchhausens, weil sie sich sozusagen an ihren eigenen Gedanken aus dem Sumpf des Denkens emporziehen. So wie der Hysteriker mit seiner Theatralik und Affektiertheit Lust und sexartigen Spaß hat, vermittelt das Lesen der philosophischen Texte oft die Art, wie sich Philosophen lustvoll ausagieren. Und so wie Freud aus dem Sprechen der Hysteriker seine psychoanalytische Wissenschaft formen konnte (wodurch man die Hysteriker geehrt hat), kann man aus Nancys Buch wertvolle und anschauliche Bilder für eine Wissenschaft vom Subjekt gewinnen (auch wenn das Zuschauen, wie ein anderer Sex hat, einen selber etwas impotent macht).
Denn Nancy stellt sich etwas gegen die Freudschen Triebe, die von sogenannten „erogenen Zonen" ausgehen. Er stellt Freuds Erwähnung des Sehens und Hörens als erste Lust (Schaulust und Sprechlust) heraus und meint, dass auch Freud schon von einer Art Ganzheitserotik gesprochen habe, bei der der ganze Körper, das ganze Integument eine erogene Zone sei, kurz: ein mehr oder weniger auto- und doch auch alloerotischer Zustand. Hier trifft sich Nancy dann doch nochmals mit Lacan, der meinte, wahren Sex gäbe es nur von einem zum ganz, zum total Anderen, den er vereinfacht mit groß A schreibt. Der Andere als Hort des Sprachgeheimnisses, als „Schatzhaus der Signifikanten", als Hort der Lustworte, der Erosvokabeln eignet sich natürlich viel mehr dazu, ein echt erotisches Verhältnis zu kreieren. Schon in der Kindheit - und dies ist ja die Basis der Psychoanalyse - habe es - so Lacan - diese einzigartige Form von Sex gegeben, die zwischen Eltern und Kind (selbstverständlich nicht in realer, sondern eben „signifikanter" Form, in Echtzeit und im intimen Sprechraum des „zuhause") anzutreffen waren. Und weil der wahre Sex eben da echt uns authentisch abläuft, wo er eigentlich nicht ist, d. h. da, wo er nur als Geschlechtsverkehr zu erfahren ist, gibt es kein wirkliches Verhältnis der Geschlechter, das irgendwie „signifikant" wäre, wahr lebbar, wahr aussagbar, greifbar.
Dennoch gibt es einen Ausweg aus diesem scheinbaren Dilemma von Liebe und Sex, von echtem Begehren und wahrer Beziehung, vom zonalen und Ganzheitseros. Der oder das Andere, groß A einfach, muss nicht eine physische Person sein. A ist ja der Hauptort, das Zentrum des Unbewussten, das wie Freud sagte, nicht denkt, kalkuliert oder urteilt, aber Es weiß. Es weiß, wie Sprache, wie symbolische Zeichen, Bedeutungsstrukturen funktionieren. Das Unbewusste reagiert nicht auf das normale, alltägliche Denken, auf Rationales, auf fertige Logik oder Satzkommunikation. Man muss ihm zwar etwas von der Art einer symbolischen Ordnung anbieten, hinter der sich Bedeutungen verstecken, aber es darf nicht schon einen Sinn haben, eine gerichtete vorgefasste Botschaft. Man muss dem Unbewussten das ihm eigene A anbieten, etwas in der gleichen Art und vom gleichen Wesen wie das A als echte "Beziehnis" (ein Begriff des Kognitionswissenschaftlers D. Hofstadter, der hier das Gleiche meint wie das "Verhältnis des Verhältnisses" ). Lacan hat es einen „linguistischen Kristall" genannt, topologische Sprechblasen, akustische Bilder. Mit diesen kann man wahren Sex haben.
Ich habe diesen Sex anderswo auch den Metasex genannt, damit man ihn nicht mit den banalen 08/15 Sex verwechselt, von dem Lacan ja auch behauptet, er sei ein Lapsus, eine Freudsche Fehlleistung, ein Patzer. Der Mann würde immer auf dem Höhepunkt seiner Angst ejakulieren und die Frau sei selbst nach mehr als den üblichen zehn Minuten noch gar nicht darauf eingestiegen. Der Metasex ist natürlich einer, der auto-und A-erotisch den ganzen Körper einbezieht, wodurch es zu einer Katharsis, Psychokatharsis kommt. Der Erfinder des autogenen Trainings, einer Selbsthypnosetechnik sprach diesbezüglich von einer „vegetativen Umschaltung" (das vegetative Nervensystem erzeugte durch ein Umkippen auf Entspannungsschaltung eine Psychokatharsis, die jedoch nicht sehr umfassend und intensiv war). Mit dem Anbieten einer selbstanalytischen Entspannungsmethode - wie ich sie hier erläutere - kommt man weiter, weil alle Aspekte des Unbewussten einbezogen werden (beim autogenen Training waren es wiederum nur ein paar Körperzonen). Und man könnte die Kluft zwischen Geschlechtsverkehr, den es gibt und dem Geschlechterverhältnis, das es nicht gibt überwinden.
Wie die Übungen mit dem Metasex aussehen habe ich in anderen Artikeln beschrieben (z. B. ENS-CIS-NOM). Hier ging es um eine theoretische Klarstellung, wonach zwar Geschlechtsverkehr existiert, aber auch das eigentliche Verhältnis der Geschlechter nicht darstellbar bleibt, so dass es eben den Metasex braucht. Für Nancy ist es (dieser eigentliche Sex) „das ‚Es gibt‘ des Verhältnisses, insbesondere des Verhältnisses der Geschlechter muss man hinzufügen. Er zielt auf diesen „rapport sexuel" als „Genießen, das sich selbst genießt", als „nicht unterschieden in Potenz und Akt", also letztlich genau auf diesen ganz anderen Sex, den Sex mit A. Doch Nancy stellt diesen nicht als therapeutisches Instrument zu Verfügung, sondern als Schrieb, den lesend man ihm bei seiner Art Sex zu haben zuschauen muss. Dies vermerkt auch der Verlag auf der Rückseite des Buches. Dagegen ist mit der Analytischen Psychokatharsis, bei der A eine Gestalt in Form des ENS - CIS - NOM oder anderer derart formelhafter Formulierungen annimmt, ein an der Psychoanalyse orientiertes Instrumentarium zur Verfügung, um der Selbst- und Sexerfahrung hilfreich zur Seite zu stehen.