Hegel: Der Mensch ist ein Knochen

Der Philosoph G. W. F. Hegel behauptete in seinem Hauptwerk (Phänomenologie des Geistes) dass der Mensch ein „Knochen" sei. „Die Wirklichkeit und Dasein des Menschen ist sein Schädelknochen . . . Wenn das Sein als solches oder Dingsein von dem Geiste prädiziert wird, so ist darum der wahrhafte Ausdruck hiervon, dass er ein solches wie ein Knochen ist."[1] Kurz, was Hegel meint ist etwas, was man so hart und plastisch wie einen Knochen  empfindet und halt nicht philosophisch oder „normaler", normalsprachlich, besser ausdrücken kann: das Wahrhaftsein, das Sein in Wahrheit. Es ist nicht etwas realistisch-äußerlich Existierendes, sondern knochenartig Symbolisches. Es geht nicht um die äußere Realität, sondern um das Wirkliche als solches. Dieses hat Festigkeit, Härte, Körper, „Knochen", existiert aber eigentlich nicht. Man kann von dem wenigen an Form, das es hat, eigentlich nicht auf den Menschen schließen (ein Problem der Paläoanthropologie). Dass das menschliche Sein in Wahrheit, also in einer gewissen Abstraktion und doch gleichzeitigen Konkretheit, Körperhaftigkeit ein „Knochen" ist, klingt so gesehen nicht ganz unplausibel.

Hegel_portrait_Der „Knochen" ist also tot, und doch spricht er, erzählt seine Geschichte, er ist demnach nicht vollkommen gestorben. Er liegt noch im Sterben, befindet sich noch im Zersetzungsprozess. Er symbolisiert daher aufs beste jenes Andere, Unbewusste in uns selbst, das uns schon im Leben ständig begleitet hat, ohne dass wir es immer bemerkt haben. Manche Psychoanalytiker haben es den Schatten genannt, der in uns wohnt, und wer weiß das nicht, dass man sich manchmal selbst der größte Feind ist. Welche Lüste sind denn nun die richtigen, die intelligenten und welche die falschen? Verfallen    Abbildung:       Hegel    1831               wir den falschen, dann haben wir uns unbewussterweise getäuscht. Unser „Knochen" hat uns gelinkt. Ich denke, dass Hegels „Knochen" das ist, was Kant lange vor ihm und noch viel vornehmer als das „Ding an sich" bezeichnet hat. Später kam ja Schopenhauer auf die Idee, unter dem „Ding an sich" den Willen zu verstehen, d. h. eigentlich das Wollen, das Triebding und nicht den Ichwillen. So könnten wir mit dem Hegelschen Knochen auch gut Freuds Todestrieb verbinden, diesen Gegentrieb gegen den Eros und das Leben.

Als Paläoanthropologe liebt man den „Knochen", man muss ihn sogar lieben, sonst kommt man in dieser Wissenschaft nicht weiter. Man hat schließlich nur ihn. Und so sollte es auch uns gehen: wir sollten unser Unbewusstes lieben, den Schatten, den „Knochen", das Nichts, Gott, das Transzendente. Das Problem ist nur, dass das Nichts oder das Transzendente lieben recht schwer ist, hat man doch nichts in der Hand, ja nicht einmal etwas zum Vorstellen. Aber das ist es eben gerade, auf was es in einer Psychoanalyse z. B. ankommt: man muss die Blödheiten, die Peinlichkeiten, das Nichts, das man aus sich herauslässt („frei assoziierend") mögen, man muss sich selbst als den Heraussprudler, den Unter-Sich-Sprechenden, den Seine-Träume-Paraphrasierenden lieben, wie käme man sonst aus einer Psychoanalyse wieder heil heraus? Der Psychoanalytiker sitzt nur dabei und gibt seine Kommentare. Die „Knochen"-Arbeit muss man selbst machen.

Mit Gott ist es nicht viel anders. Den haben uns die Priester und Jenseitsjongleure schon so vorgekaut, dass wir ihn selbst gar nicht mehr finden können. Wenn Hegel uns den „Knochen" als Ausdruck seiner Phänomenologie des Geistes anpreist, so deswegen, weil er noch originär, echt, und das heißt praktisch: nicht abgenagt ist. Gott dagegen ist über Jahrtausende ausgezuzelt, verbraucht und zerredet worden. Wer es noch mit Ihm kann, soll sich glücklich schätzen. Ich empfehle aber etwas anderes. Ich empfehle diesen „sprechenden Knochen" zu lieben, diesen - wie es J. Lacan nannte „linguistischen Kristall", der das Unbewusste ist. Freilich gebe ich dem „sprechenden Knochen" eine adäquatere Form, denn so wie ihn Hegel konzipiert hat, ist er ja formlos. So kann man nur theoretisch-philosophisch über ihn spekulieren und keine praktische Erfahrung davon haben.

Was heißt das: praktische Erfahrung davon haben. Nun, es sollte ja das Sein in Wahrheit sein, das mit ihm zu tun hat und das er symbolisiert. Die Wahrheit wiederum ist an das Wesen der Sprache geknüpft, weshalb ich ja schon vom „sprechenden Knochen" geredet habe. Warum sollte man nun das Unbewusste nicht sprechen lassen können, ist es doch für die Wahrheit des Individuums so notwendig. Das soziale Kollektiv ist nicht die Wahrheit des Individuums. Das Kollektiv als solches ist das Subjekt des Individuums, sagt Lacan, d.h. es geht um ein über die Grenzen des Sozialen hinaus gefassten Kollektivs. Es muss nicht die ganze Menschheit sein, schon gar nicht die Alle Zeiten und Räume umfassende. Das wäre wohl schlecht möglich. Aber es geht in der Psychoanalyse Freuds nicht um die Gesellschaft, nicht ums soziale Klientel. Es geht um ein Kollektiv, das weit in Vergangenheit und Zukunft reicht und auch viele Menschen umfasst. Denken wir an Freud selbst, wie er von Moses angefangen über Platon und die Dramengestalten Shakespeares die Menschen, die an der Wissenschaft des Unbewussten interessiert waren, in einem Netz zusammenfing, in einer weitgespannten community zusammenfügte. Es geht also um ein im Bewussten und Unbewussten zusammengefasstes Kollektiv, das jeder, versteht er sich nur als „Menschenfischer" (ein Ausdruck Jesu) in seinem Netz zusammenführen kann und auch irgendwie muss.

Denn beim Menschen gibt es kein fixiertes Gruppenverhalten, sondern ein Handeln in wechselnd großen Kollektiven, das von seinem Unbewussten her unbestimmt bestimmt ist (wenn ich das im Sinne einer „praktisch-logischen Unschärferelation" so sagen darf). Es geht also zu wie bei Kafka, bei dem die einzelnen Aktionen, die die Romangestalten Kafkas durchleben und durchleiden durchaus logisch sind, aber das Gesamt der Erzählung ist vollkommen widersprüchlich, alogisch und irrelevant. Der Protagonist Herr K. handelt stets einen Schritt nach dem anderen ab und dies aus nicht unlogischen Motiven, aber ein geheimnisvolles Kollektiv im Hintergrund oder in ihm drinnen und darüber bewirkt die ständigen Paradoxien. So wandert Herr K. z. B. zum Schloss einen Weg, der anfangs nicht weit erscheint, aber dann zieht er sich doch endlos dahin. Wer würde so etwas nicht aus eigener Erfahrung kennen? Man nimmt die Dinge beim ersten Mal oft gänzlich anders wahr als später, als Kind anders wie als Erwachsener, als Laie anders wie dann, wenn man Fachmann geworden ist. Es ist, als schiebe sich zwischen die einzelnen Erfahrungen so wie auch zwischen die einzelnen Sätze eine „Umkehrung", wie man sie auch vom Unbewussten her definiert.

Gerade dadurch ist Herr K. nicht mehr ein einfaches Individuum eines sozialen Kollektivs seiner Zeit etwa, sondern er ist ein besonderes Subjekt, Subjekt des kollektiven Unbewussten, Subjekt, in dem sich die Paradoxie (Umkehrung) des Lebens ganz besonders inkarniert. Was Kafka doch sagen will, ist, dass wir alle Herr K. sind. Wie in der Psychoanalyse ist das hier gemeinte Kollektiv etwas geheimnisvolles. Wenn Lacan also sagt, „das Kollektiv ist das Subjekt des Individuums", so meint er Subjekt verstanden als Subjekt des Unbewussten, Subjekt des in uns allen „sprechenden Knochens".  Was will das Kollektiv, was ist seine Bestimmung oder sein Trieb? Das ist die ständige Frage des Herrn K. in Kafkas Romanen. Auf jeden Fall bekommt hier der Trieb die Bedeutung eines außerhalb der biologisch/literarischen Bezugnahme Liegenden, eines Sprechenden, das eben gleichzeitig Kristall-, Knochenstruktur hat und doch auch kollektiv Symbolisches ist. Etwas, das also formal ganz klar bestimmt ist, aber dem Unbestimmten noch fast unbegrenzten Raum lässt. Wir Subjekte (Subjekt = lat. Zugrundeliegendes, Unterstelltes) sind einem unbestimmten Kollektiv unterstellt, von dem wir unbewusst wissen, was es will, es aber nicht wahrhaben wollen oder merken. Aber es ist eine Chance für das Individuum, wenn es gelingt diesen „sprechenden Knochen" als die kompakte Kombinatorik des sonst unbestimmt belassenen Kollektivs wie eine Hilfe, eine Therapie, eine kleine Maschine (den „linguistischen Kristall", den „sprechenden Knochen" eben) zu nutzen.

Auch hier wieder muss ich der Kürze halber auf die „keine Maschine", den „sprechenden Knochen" meiner Formel-Worte im Verfahren der Analytischen Psychokatharsis verweisen, wie sie in den entsprechenden Artikeln oder Web Seiten geschildert ist.

 


[1] Hegel, G. W. F., Phänomenologie des Geistes, Ullstein (1973), S. 180 - 202